Auch Sir Tim Berners-Lee, der Begründer des World Wide Web und Erfinder der Computersprache HTML, hat sich in die Debatte um die Netzneutralität eingeschaltet. Er plädierte im britischen «Guardian» für die Netzneutralität, ebenso wie Steven Wozniak, Mitgründer von Apple, der sich in einem offenen Brief im Magazin «The Atlantic» besorgt äusserte. Selbst der beliebte Komiker John Oliver widmete dem Thema eine ganze Sendung, woraufhin die Server der FCC mit 300 000 E-Mails und Kommentaren überhäuft und vorübergehend lahmgelegt wurden. Viele Kritiker befürchten auch, dass die Telekommunikationskonzerne die erhobenen Gebühren gar nicht nutzen werden, um die Infrastruktur auszubauen und Datenstaus zu verhindern, sondern die Einnahmen als Gewinn einstecken wollen.
Verschärfend für die Debatte kommt hinzu, dass sowohl einige Netzanbieter wie auch IT-Konzerne angefangen haben, ihr Geschäftsmodell zu verändern und vertikal zu integrieren: Sie wollen künftig die komplette Wertschöpfung von der Erstellung der Inhalte bis zu deren Übertragung an den Endnutzer aus einer Hand leisten können. Google erwägt beispielsweise, sich an einem Glasfaserkabel unter dem Pazifik zu beteiligen und so seine eigenen Inhalte, die grösstenteils auf Servern in Nordamerika stehen, schnellstmöglich nach Asien, dem bevölkerungsreichsten Kontinent, übertragen zu können. Damit würde der IT-Konzern seine marktmächtige Stellung ausbauen und sich von den Netzbetreibern unabhängig machen, statt diesen Gebühren für schnelle Leitungen zahlen zu müssen.
Die wiederum geben sich nicht mehr damit zufrieden, nur Dienstleister für die Inhalte anderer zu sein: Comcast etwa hat sich am Streaming-Dienst Hulu beteiligt, einem direkten Konkurrenten von Netflix. Sollte die Netzneutralität tatsächlich aufgehoben werden, könnte Comcast seinen eigenen Streaming-Dienst bevorzugen, also Hulus Inhalte schneller übertragen als die von Netflix. Ebenso könnte Google auf der Glasfaserleitung seine eigenen Inhalte und die seiner Tochterfirmen priorisieren. Da die Auswirkungen wohl so eklatant wären, hat sich selbst der Verband deutscher Zeitungsverleger mittlerweile in die Debatte eingemischt und warnt vor einem «Albtraum demokratischer und marktliberaler Gesellschaften», sollten Netze und Inhalte vertikal integriert werden.
Der Kampf um Netzneutralität wird aber nicht nur in Internetforen, Medien und Parlamenten ausgetragen, er tobt auch an der Front der Lobbyisten. Comcast als – am Umsatz gemessen – weltgrösster Kabeldienstbetreiber gab allein 2013 18,8 Millionen Dollar für politische Einflussnahme aus und ist damit der zweitgrösste Lobbyist der USA. Die Ausgaben scheinen sich zu amortisieren: Vorsitzender der FCC wurde im vergangenen November Tom Wheeler , ein ehemaliger Toplobbyist amerikanischer Kabel- und Telekommunikationsfirmen – und Golfpartner von Barack Obama. Die Telekommunikationsfirmen werden nun also von einem Ehemaligen aus ihren eigenen Reihen beaufsichtigt. Derart pikante Details sind Wasser auf die Mühlen der Gegner der FCC-Pläne.
Auch wenn die Debatte um Netzneutralität in den USA am stärksten tobt, treibt sie auch andere Staaten um. Chile war das erste Land, das 2010 die Netzneutralität gesetzlich verankert hat . Seit dem 1. Juni dieses Jahres ist es dort Netzbetreibern sogar verboten, bestimmte Inhalte positiv zu diskriminieren, also etwa die Datenpakete von Facebook, Google oder Wikipedia nicht dem monatlichen Datenvolumen der Nutzer hinzuzurechnen. Solche Verletzungen der Netzneutralität sind auch bei deutschen und amerikanischen Anbietern bekannt, bisher hat aber nur Chile ihnen einen Riegel vorgeschoben.
Die Niederlande hielten die Netzneutralität zunächst 2011 im Mobilfunk, 2012 auch im Festnetz gesetzlich fest, allerdings mit einigen Ausnahmen versehen. Slowenien hat 2013 ein Gesetz verabschiedet, nach dem nur ein richterlicher Beschluss die Netzneutralität ausser Kraft setzen darf. In der Schweiz ist der Bundesrat mit einer derartigen gesetzlichen Neuregelung beauftragt (siehe Kasten). Auch in der Europäischen Union wird darüber diskutiert, die Netzneutralität in der geplanten Verordnung zum gemeinsamen Telekommunikationsmarkt festzuschreiben. Das EU-Parlament hat kürzlich einen entsprechenden Vorschlag verabschiedet, den derzeit der Ministerrat erörtert.
Gefahr des Monopols
Ob in der Europäischen Union, der Schweiz oder den USA, die Gesetzgeber sehen sich mit Grundsatzfragen konfrontiert: Soll der Staat die freien Kräfte des Marktes spielen lassen, also die bisher geltende Maxime der Netzneutralität fallen lassen? Möglicherweise riskiert man dann, dass eine Handvoll mächtiger Netzanbieter kontrolliert, welche Inhalte im Internet wie schnell übertragen werden. Man könnte jedoch argumentieren, dass in einem funktionierenden Markt die Endnutzer derartige Praktiken bestrafen und den Anbieter wechseln würden. Doch in ländlichen Regionen haben oft nur ein oder zwei Anbieter die «letzte Meile» an Leitungen zu den Haushalten verlegt. Laut einer FCC-Studie verfügen 80 Prozent der amerikanischen Bevölkerung nur über Zugang zu maximal zwei Kabelanbietern.
Sollte der Staat also stattdessen die Netzneutralität gesetzlich zementieren? Um das durchzusetzen, brauchte es wohl eine umfangreiche Überwachung und regulatorische Eingriffe, wie die Gesetze in Chile und den Niederlanden zeigen. Zudem herrscht schon heute aus Praktikabilitäsgründen keine absolute Neutralität: Netzbetreiber bevorzugen Datenpakete für Internettelefonie vor denen von E-Mails, weil bei Ersteren die Übertragung zeitkritischer ist. Eine gewisse technische Diskriminierung ist im Netz also durchaus nötig.
«Doch wo verläuft die Grenze bei dieser Diskriminierung? Und wer zieht sie?», fragt sich Urs Gasser. Er ist Direktor des Berkman Center for Internet and Society an der Harvard University in Boston, das sich mit Fragen der Netzneutralität auseinandersetzt. Derzeit stünden die Regulatoren vor einem Dilemma: Wenn sie jetzt die Situation falsch einschätzten und nicht intervenierten oder eben doch, könnten sie eine Monopolsituation begünstigen – entweder zugunsten der Netzanbieter oder der marktmächtigen Internetkonzerne. Und ein derartiges wie auch immer geartetes Monopol könnte die künftige Freiheit im Internet tatsächlich gefährden, so Gasser.
Ein Szenario, bei dem lokale Nachrichtenseiten diskriminiert würden, wäre dann wohl nur der Anfang.
Quelle: NZZ (erster und zweiter Teil am 1. und 15. September veröffentlicht)
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