Dienstag, 29. Januar 2013

Vielleicht war das Opfer der Täter

Abends an der Bar,
ist nicht mehr alles klar
Eine deutsche Nachrichtenmagazin-Reporterin berichtete aufgeregt über eine Begegnung mit Brüderle, die ein Jahr zurückliegt. Dabei schrieb sie, als ob das Ereignisgleich jetzt  stattgefunden hätte, im Präsens, wie sie ein Politiker verbal belästigt habe. Der Leser ist mit dabei, jetzt, obleich es schon lange vorbei ist. Rainer Stadler fragt in der NZZ zu recht, wie «jemand eine Begegnung nach einem Jahr noch so genau wiedergeben kann» und ob die Journalistin die Aussagen damals sogleich aufgeschrieben habe, da sie immerhin zwischen Anführungszeichen gesetzt wurden und damit Genauigkeitvorgaukeln?

Erinnerungen verändern sich im Verlauf der Zeit, doch darüber schreibt die Reporterin nichts. Der Politiker hingegen schweigt. Wohl die einzige richtige Antwort auf solches Geschwätz, denn es gäbe nur ein Hickhack weiterer nicht nachprüfbarer Behauptungen. Der Medienanwalt Ralf Höcker legt mit einer fiktiven Darstellung der Konversation zwischen den beiden Kontrahenden anschaulich dar, wie die Begegnungen sich hätte abspielen können, wie je nach Sichtweise die «Wahrheit» ganz anders ist. Man kann sich fragen, weshalb, das deutsche Massenblatt dise Geschichte nach einem Jahr erst bringt, weshalb es sie überhaupt bringt, ob es dem Staat zuträglich ist, wenn die Presse Mandatsträger auf blossen Verdacht oder einseitige Aussage hin «in die Pfanne haut». Von der vielzitierten vierten Gewalt dürfte man mehr erwarten.

Dienstag, 8. Januar 2013

Bücherberg als Bibliothek

Einst war Spijkenisse ein kleines Dorf. Durch den Wirtschaftsboom wuchs es zu einer stattlichen Schlafstadt mit 80 000 Einwohnern vor den Toren Rotterdams heran. Spijkenisse ist eine Stadt ohne Stadtzentrum und eine Hochburg der populistischen Rechten. Zudem weist Spijkenisse die niedrigste Bildungsrate in den gesamten Niederlanden auf. Der Bau der ersten öffentlichen Bibliothek war der logische Schlussstein am Ende einer jahrelangen politischen Offensive, die darum bemüht war, das hässliche Entlein Spijkenisse aus dem Schattendasein zu befreien und für die Zukunft hübsch zu machen.


Winy Maas, der den international ausgeschriebenen Wettbewerb für die neue Bibliothek 2003 für sich entscheiden konnte, versteht es, mit einfachen Mitteln zu überzeugen. Zur Präsentation in der Stadtgemeinde erschien er damals mit fünf Büchern unter dem Arm, stapelte diese der Grösse nach zu einer Pyramide und beendete seine Rede mit den Worten: «Das ist er also, der Boekenberg (Bücherberg) von Spijkenisse!» Neun Jahre später steht der Berg – und die Retortenstadt ist um einen öffentlichen Ort reicher, der mit seiner Glaspyramide an Gottfried Böhms Ulmer Stadtbibliothek erinnert.

Von aussen betrachtet wirkt der Boekenberg wie eine aufgeblasene Hütte, eingehüllt in Ziegelstein und Glas.Während der Boekenberg von aussen nur wenig zu begeistern vermag, offenbart er sich spätestens beim Eintreten. Der Innenraum ist lichtdurchflutet, verschwenderisch gross und raffiniert urban: Als hätte jemand den Vorplatz verlängert, sprechen Ziegelboden und Strassenlaternen unmissverständlich die Sprache öffentlicher Freiräume. Das Bild ist stimmig und überzeugend.

Über eine breite Treppe gelangt man in den ersten Stock. Hier befindet sich der Empfang mitsamt Info-Point und Rückgabestation. Und überall Bücher, Bücher, Bücher. Normalerweise stehen die Bücherregale entlang der Fassade, und in der Mitte liegt ein grosser, unbelichteter und abgeschotteter Raum. Maas hat die klassische Raumkonfiguration auf den Kopf gestellt und den Lesebereich von innen nach aussen gestülpt.

Zusätzlich zur regulären, 70 000 Bücher umfassenden Handbibliothek gibt es ausser Reichweite, also irgendwo in schwindelerregender Regalhöhe, Platz für weitere 80 000 Bücher. Das entspricht der Bevölkerungszahl der Stadt. Zur Eröffnung der Bibliothek Anfang Oktober wurde jeder Bewohner Spijkenisses eingeladen, ein Buch zu spenden und ins Regal zu stellen. Der Plan ist aufgegangen. Die Regale sind bis oben hin gefüllt.

«Nichts ist schlimmer als eine halbleere Bibliothek», sagt Winy Maas. «Das ist weder attraktiv, noch kann man damit Publikum ins Haus locken. Ich denke, mit der persönlichen Note hat nun jeder Bewohner eine gewisse Beziehung zur neuen Bibliothek. Jeder weiss, dass sein Buch Teil dieses Hauses ist. Und wenn es nur zur Zierde ist.»
Quelle: Neue Zürcher Zeitung