Gordon Bell, ein 74-jähriger US-Computerwissenschafter, zeichnet alles auf. Er speichert, was ihm begegnet, was um ihn geschieht, was er liest, schreibt, sagt. Er scannt ein, fotografiert, zeichnet auf. Pensionierung sei für ihn kein Thema, seine Arbeit endet nie. 1995 fragte er sich, was er mit dem Gerümpel machen solle, das sich um ihn herum angesammelt hatte, mit den Bildern, Büchern, Papieren. Statt aufzuräumen, zu trennen, wollte er wissen, was nötig sei, um alles aufzubewahren. 2001 fing er mit Einscannen an. Eine Kamera, die an einer Schnur um den Hals hängt, zeichnet Menschen, ein GPS-Gerät Orte, ein drittes Utensil Stresssituationen, Herzschläge, Blutdruck, Kalorienverbrauch auf.
Gehirn ist Computer voraus
Sich an alles erinnern? Nie mehr vergessen? Vor langer Zeit schrieb Rainer Maria Rilke: «Es ist wichtig, sich zu erinnern. Noch wichtiger ist, zu vergessen.» Der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich sagt: «Die wichtigste Eigenschaft unseres Gedächtnisses ist vergessen. Ich bezweifle sehr, ob wir mit einem digitalen Gedächtnis umgehen könnten.» Unser Gedächtnis sammelt nicht, es interpretiert. «Ein digitales Gedächtnis würde uns überfordern, weil es uns an unwichtige, schlechte, vielleicht peinliche Dinge der Vergangenheit erinnert, die in der Rückschau aus dem emotionalen Kontext gerissen werden.» Das Lebensgefühl, der Kontext wäre nicht mehr nachvollziehbar, das Geschehene wäre es sehr wohl.
Doch auch Bell, dessen Gedächtnis frei von Unnötigem sei, da alles, sein ganzes Leben auf dem Computer gespeichert ist, kommt nicht ohne Interpretation aus: Sein Team sucht Möglichkeiten, die Datenflut zu sortieren, Wichtiges hervorzuheben, Unwichtiges zu verstecken, weil der Nutzer das nicht selber machen wolle. Vielleicht ist es doch besser, sich an Rilke zu halten und ab und zu etwas Altpapier zu bündeln.
Quelle: NZZ am Sonntag, 4. Januar 2009 (Auszüge; ganzer Artikel hier klicken)
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