Dienstag, 29. September 2015

Lassen Sie auf der Toilette auch immer die Tür offen?

Es gibt ein Internet, in dem uns die Geheimdienste nichts anhaben können: das Darknet. Immer öfter flüchten Menschen in diese dunkle Welt – wo es aber auch Drogen, Waffen, Kinderpornografie gibt. Eine bedenkenwerte Reportage von Tobias Ochsenbein, erschienen am 25. Juli in der Neuen Zürcher Zeitung.


Im Internet ist alles möglich. Das wissen wir spätestens seit dem Juni 2013, als die britische Zeitung «The Guardian» erstmals über die Überwachungstätigkeit des amerikanischen Geheimdienstes NSA berichtete und über Edward Snowden. Bis dahin hatten wir geglaubt, die Entwicklung der digitalen Technologie bringe mehr Freiheit, und begriffen dies als Zukunft. Heute ist uns klar, von wie vielen Seiten wir überwacht, beobachtet, durchleuchtet werden.

«Es sind die Sonnen der Dateninterpreten von Google, Facebook, Amazon, Apple und Co., die uns bescheinen», schreibt die Kommunikationswissenschafterin Miriam Meckel in ihrem Buch «Wir verschwinden». Multiple Sonnen, allgegenwärtig und unabhängig von Tages- und Nachtzeiten, die unsere Pfade in der materiellen und digitalen Welt bestrahlen, so dass alle wissen, welche Spuren wir zurückgelassen haben.

Schattenplatz im Cyberspace

Doch wie überall auf der Welt gibt es auch im Netz Orte, die für die Strahlen der Sonne unerreichbar bleiben. Das Deep Web – ein Schattenplatz im Cyberspace. Mit immer mehr Menschen, die das Licht der Sonne meiden und dorthin flüchten, wo sie unbeobachtet sein können. Weil vielen langsam klarwird, was es alles zu verbergen gibt.

Ein solcher Mensch ist Jonas. Jonas, in seinen Zwanzigern, ging ins Deep Web, um Drogen zu kaufen. Weiss Bescheid, wie man eben Bescheid weiss, wenn man durch solche Abgründe streift, sich auf virtuelle Märkte begibt, an denen nicht frisches Gemüse und Obst feilgeboten werden, sondern: Ketamin, Kalaschnikows, Kinderpornografie. Spricht über die Orte mit dem Wissen um die Freiheit der Anonymität, Reisebegleiter durch diese Welt. Eine andere Welt.
Welche Dimensionen diese Schattenwelt hat, ist kaum zu ermessen. Es gibt Quellen, die sprechen von einer Grösse zwischen 30 und 50 Prozent des gesamten Internets; andere davon, dass es bis zu 400 Mal so gross sei wie das uns vertraute Netz.

Um diese Welt zu erkunden, brauchen Menschen wie Jonas einen Schlüssel: den Tor-Browser, ein Anonymisierungsprotokoll, das sich schnell und unkompliziert installieren lässt. Damit greift man nicht direkt auf eine Website zu, sondern wird mit jeder Eingabe über andere Rechner umgeleitet, die sämtliche Anfragen erneut verschlüsseln. Während man sonst im Internet überall digitale Spuren hinterlässt, bleibt man hier anonym.

Das Tor-Projekt ist ein grosses Anonymitätsnetzwerk. Es wurde Anfang der 2000er Jahre von der US Navy entwickelt, um die eigene Kommunikation zu schützen. Heute wird Tor durch Spenden finanziert. Es soll vor allem Journalisten und Whistleblowern ermöglichen, sicher über Quellen zu reden. Aktivistengruppen nutzen es, Dissidenten bewahrt es vor Verfolgung. Die Tor-Macher sagen über ihr Projekt: «Wir brauchen solche Software, um uns vor der Analyse der Verbindungsdaten zu schützen, die genaue Rückschlüsse darauf zulassen, wer wir sind, mit wem wir reden und wie wir uns verhalten.» Wir kommen also zu einem Punkt, an dem uns keine Behörde mehr sehen kann; wo niemand mehr weiss, wer wir sind und woher wir kommen. «Die Geheimdienste sind sehr unglücklich, dass sie uns nicht knacken können. Das wiederum macht uns sehr glücklich», sagen die Leute von Tor.

Weit weg von Gesetzen

Die Navigation im Deep Web ist komplex. Hier hilft kein Google, kein Yahoo, kein anderer Suchdienst. Lediglich Verzeichnisdienste, die aussehen wie Webseiten aus den 1990er Jahren, bieten einen Überblick. Ein solcher ist das «HiddenWiki»; dort befinden sich Hunderte von Links, sortiert nach Kategorien: «Activism», «Erotica», «Drugs», «Weapons».

Viele tauschen hier, im Schatten der Sonne, weit weg von den Augen der Polizei, gefälschte Dokumente, Drogen, Waffen, Kinderpornografie. Andere bieten ihre Dienste als Auftragskiller an.

Die Macher von Tor sagen dazu: «Tor gibt uns unsere Privatsphäre zurück. Wir sollten damit keinen Unsinn machen, keine Straftaten begehen, sondern nur freier leben und reden können. Es soll uns schützen, wenn wir Schutz brauchen. Aber wie alles im Leben kann eine Technik auch ausgenutzt werden. Daran ist nicht die Technik, sondern der Mensch schuld, der sie bedient. Der die Straftat begeht und sie vermutlich auch so begangen hätte.»

Ein solcher Mensch ist Jonas. Jonas wohnt in einer Schweizer Stadt und stammt aus einem Ort, an dem die Öde den Jugendlichen nicht bereits die Köpfe mit Blödsinn füllte. Drogen, sagt er, hätten ihn nicht so sehr interessiert. Aber das Technische. Das Deep Web und Bitcoins, eine virtuelle Währung, mit der dort bezahlt wird, auch eine Zahlung damit kaum zurückzuverfolgen, das wollte er ausprobieren. Und später, in einer Gruppe von Freunden, junge Erwachsene noch, die möglichst viel erleben wollten, wuchs das Verlangen, einmal LSD zu probieren. Einen Dealer kannte Jonas nicht, also schaute er im Netz.

Er landete im Deep Web und bog dabei um so viele Ecken, bis er einen möglichen Drogenfahnder abgeschüttelt hatte. Jonas musste nie zu den Drogen. Die Drogen, LSD für die Halluzinationen, MDMA für die Euphorie, kamen zu ihm. Mit der Post, meistens aus den Niederlanden, in Couverts, sauber verpackt, getarnt als persönlicher Brief. Ein Rausch im C5/C6-Format. Unerkannt brach er Regeln. Nicht im Dunkel der Klubs, nicht im Dunkel einer Gasse. Eine Dealerei in den Abgründen des Netzes. An der «Silk Road», der Seidenstrasse, die mittlerweile geschlossen ist, ein Online-Versandhandel, ähnlich denen von Amazon oder Ricardo, aber: ein Markt für Drogen. Anonym. Versteckspiel und Schatzsuche für erwachsene Menschen.

Ein solcher Mensch war Jonas. Er kauft heute keine Drogen mehr, konsumiert sie nicht einmal mehr. Die letzte Schatzsuche, sie ist lange her. Vor anderthalb Jahren wurde am Zoll in Basel ein Brief abgefangen. Vielleicht Zufall, vielleicht nicht. Dann Polizei, Hausdurchsuchung, Verhör und Drogentest. Jonas hatte, von der letzten Bestellung, noch eine kleine Menge Drogen in seiner Wohnung. Schliesslich Fahrausweisentzug auf Zeit, eine Busse wegen Übertretens des Betäubungsmittelgesetzes. Noch einmal glimpflich davongekommen. Trotzdem sagt er: «Alles im Deep Web ist sehr sicher und anonym. Ich hatte einfach Pech.» Wäre er in der physischen Welt nicht aufgeflogen, man hätte seine Identität wahrscheinlich nie herausgefunden.

Türe schliessen – auch im Netz

Auch wenn wir keine kriminellen Hintergedanken haben: Das Recht auf Anonymität ist selbstverständlich. Werden wir also bald alle gänzlich anonym sein wollen? Oder flüchten wir auch in Zukunft in den Fatalismus und verschlüsseln unser Tun im Netz nicht, weil wir die Überwachung der Geheimdienste ja sowieso nicht sehen?

Im Buch «Deep Web – Die dunkle Seite des Internets» schreibt der anonyme Autor, dass wir uns künftig mit unserem Verhalten im Netz beschäftigen müssten. Dass wir uns fragen müssten, warum wir im echten Leben die Tür hinter uns schliessen, wenn wir auf die Toilette gehen. Und warum wir das im Internet nicht tun. Warum wir im persönlichen Gespräch nicht von unseren Mängeln und Schwächen erzählen, für die wir uns schämen, genau diese aber im Netz, auf Facebook und Twitter, mit allen bereitwillig teilen. Denn wir sollten uns dort nicht länger so bewegen, als wäre das Netz ein anonymer, freier und utopischer Ort – wie der, an den man nur gelangt, wenn man den Zugang kennt.

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