Dienstag, 15. September 2009

Abfall im Archiv und Abfall des Archivs?

Hat erst einmal ein Dokument Eingang gefunden in ein Archiv, lässt es sich kaum mehr zum Verschwinden bringen. Nichts könnte diese verwaltungstechnische Gründlichkeit eindrücklicher belegen als die Tatsache, dass jüngst im Archiv der Bundesanwaltschaft Kopien der Tinner-Akten zum Bau von Atomwaffen zum Vorschein kamen, die angeblich auf Wunsch der CIA und zum Ärger der Schweizer Strafverfolgungsbehörden allesamt vernichtet worden waren. Die Betretenheit des Bundesrats angesichts der Zuverlässigkeit seiner Archivare lässt darum nicht gerade auf ein tieferes Verständnis für ihre Berufsauffassung schliessen. Von Aktenvernichtung steht kaum etwas im Pflichtenheft der Archivare; ihre Kernaufgabe liegt in der Konservierung.

Wie unvermutet viel komplexer die Vernichtung von Akten als ihre sachgerechte Aufbewahrung ist, mussten übrigens schon die Archivare der Stasi erfahren. Über 16 000 Säcke mit geshredderten Akten konnten nach dem Zusammenbruch der DDR sichergestellt werden. Seit zwei Jahren puzzelt nun in Berlin ein vom Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik entwickeltes System die Stasi-Schnipsel wieder zusammen. Darum gilt: Was einmal im Archiv liegt, wird man kaum mehr los. Die Kunst der Vernichtung hat mit der Kultur der Archivierung nicht Schritt gehalten. Aber wie gelangt ins Archiv, was ein Mensch als Lebens- oder Arbeitsspuren hinterlassen hat?

Erinnerungsmaschinen
Archive im Allgemeinen und Literaturarchive im Besonderen sind nicht nur gewaltige Erinnerungsmaschinen sowie auf Vorrat und in Unkenntnis von zukünftigen Erkenntnisinteressen angelegte Gedächtnisspeicher. Sie sind regelrechte Abfallvermeider und Müllverwerter. Auf die Frage, ob und gegebenenfalls wie in den Dichternachlässen das Unbrauchbare vom Brauchbaren getrennt werde, antwortet Irmgard Wirtz, Leiterin des Schweizerischen Literaturarchivs in Bern, ganz entschieden und resolut: «Es gibt keinen Abfall.» Gewiss, so fügt sie einschränkend hinzu, werde nicht alles entgegengenommen. Nachlässe und Privatarchive würden gesichtet. Nach Bern komme nur, was belangvoll sei und Auskunft geben könne über Leben und Werk eines Autors. Dazu gehören auch Steuererklärungen, Briefe sowieso, doch auch Gegenstände, sodann die Privatbibliothek, soweit sie Gebrauchsspuren aufweise.

Aber Archivare reden nicht gern über abgewiesene oder gar vernichtete Bestände. Das sei ein heikles Thema, heisst es. Auch im deutschen Literaturarchiv in Marbach windet man sich. Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung in Marbach, gibt zwar bereitwillig Auskunft, behaglich ist ihm dabei nicht. Die Frage nach archivalischem Abfall ist sichtlich indezent. Im Jargon der Archivare wird für die Benennung des Vorgangs ein eigener Terminus verwendet: Kassation heisst hier die Aktenvernichtung. Das klingt vornehmer und verschleiert die Tatsache, dass vollends Abfall wird, was dem Urheber schon zur Last geworden war und nun nicht einmal mehr der Archivar (im Dienste welcher Zukunft?) aufbewahren will.

So sind die Archivare in mancher Hinsicht durchaus wählerisch. Was unerheblich oder entbehrlich sei, so Ulrich von Bülow, gehe zurück an den Absender oder weiter in die Müllverbrennung. Ohnehin seien die Magazine in Marbach in absehbarer Zeit voll. Allein schon darum könne man nicht alles nehmen. Wie aber kommt etwas ins Archiv, damit es sich aus der Gegenwart in zukünftig dokumentierte Vergangenheit verwandeln soll? Es gibt ein probates Mittel, freilich ist es nicht ganz gefahrlos: Indem die Schriftstellerin oder der Schriftsteller eigenhändig Teile des eigenen Archivs zur Vernichtung bestimmt, seien es Briefe, Tagebücher oder Manuskripte. Nichts weckt das Forscherinteresse nachhaltiger als das, was der Urheber vor der Nachwelt verborgen wissen wollte. Ein durchgestrichenes Wort in einem Manuskript von Robert Walser? Es wird sich dem Gedächtnis der Wissenschaft vielleicht stärker einprägen als vieles andere in dem betreffenden Text. Ein zerrissener Brief oder Zettel? Jeder Literaturhistoriker wird sich darauf stürzen.

Ludwig Hohl hat Tausende von Zetteln bei seinem Tod der Nachwelt hinterlassen. Vieles davon hat er zerrissen, aber nicht vollends zerstört. Vermutlich von Hohls Witwe, Madeleine Hohl-de Weiss, sind sie wieder zusammengeklebt worden. Auf einem weiteren Zettel hat er eine Vernichtungsverfügung hinterlassen, von der nicht mit Sicherheit zu sagen war, worauf sie sich bezog. Nicht allein darum ist sie erhalten geblieben wie im Übrigen alles, was von ihr hätte gemeint sein können. Denn ein solches unvollendetes Autodafé ist natürlich die schönste Einladung an die Nachgeborenen, gerade hier genauer hinzuschauen und den exegetischen Scharfsinn mit detektivischem Spürsinn zu paaren.

Kaum einer hat diesen Doublebind der Selbstdeklaration intuitiv vielleicht genauer durchschaut als der Kulturphilosoph und Schriftsteller Rudolf Pannwitz. In seinem Nachlass fanden sich drei Umschläge, in denen er Materialien zur Physik gesammelt hatte. Zwei Umschläge sortierten das Material alphabetisch, der dritte Umschlag war beschrieben mit «PHYSIK Abfall». Kein verantwortlicher Archivar käme auf den Gedanken, an dem Umschlag und seinem Inhalt zu vollziehen, wozu seine Beschriftung anstiftet. Rudolf Pannwitz ist vor vierzig Jahren gestorben, und man kann sich denken, dass seither nicht mehr viel geblieben ist von ihm; was er aber einst als Abfall bezeichnet hat, überdauert in säurefreien Behältnissen und bei konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit in Marbach.

Die Historisierung der Gegenwart
Nie zuvor hat eine Zivilisation so sehr an ihrer eigenen Historisierung gearbeitet wie unsere Gegenwart, schreibt der Philosoph Hermann Lübbe in seinem Buch «Im Zug der Zeit». Kaum eine Kunst hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so sehr entwickelt wie die Kunst der Abfallvermeidung in unserer Schriftkultur. Wo aber alles aufbewahrt wird, schwindet in der Masse der Dokumente die Aussagekraft einzelner Zeugnisse. Die Kehrseite der verfeinerten Kultur der Aufbewahrung ist die Tabuisierung des Abfalls. Wo kein Fitzelchen der archivalischen Achtsamkeit entgeht, wird die Erinnerung dereinst am überlieferten Material ersticken.

Vielleicht lautete darum die Frage nicht, wie in die Archive kommen soll, was wir hinterlassen, sondern vielmehr, was davon überhaupt in die Archive soll, wenn sie denn nicht an ihrer eigenen Verschlingungssucht zugrunde gehen sollen. Hermann Lübbe hat zur Lösung dieses Konflikts die Herausbildung eines ganz besonderen Zukunftsverhältnisses empfohlen: «eine gegenwärtige Vorwegnahme künftiger historischer Interessen an derjenigen Vergangenheit, die unsere Gegenwart einst geworden sein wird». Und wie hat Hermann Lübbe seinerseits das künftige historische Interesse an seiner Gegenwart vorweggenommen, als er seinen Vorlass ins Literaturarchiv Marbach übergeführt hat? Einen erheblichen Teil habe man, so berichtet Ulrich von Bülow, mit Hermann Lübbes Einverständnis an die Müllverbrennung weitergegeben.

Quelle: Von Roman Bucheli, in: Neue Zürcher Zeitung, 11. April 2009, Nr. 84, S. 55.

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