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Donnerstag, 10. August 2023

Wie Google das Internet kontrollieren will

Google scheint es zu lieben, Spezifikationen zu erstellen, die für das offene Web schrecklich sind, und es scheint, als würden sie alle paar Monate einen Weg finden, eine neue zu erstellen. Dieses Mal sind wir auf einige Kontroversen gestoßen, die durch eine neue Web Environment Integrity-Spezifikation verursacht wurden, an der Google offenbar arbeitet.

Zum jetzigen Zeitpunkt konnte ich keine offizielle Nachricht von Google zu dieser Spezifikation finden, daher ist es möglich, dass es sich nur um die Arbeit eines fehlgeleiteten Ingenieurs im Unternehmen handelt, der keine Unterstützung von oben hat, aber es scheint eine Arbeit zu sein wird seit mehr als einem Jahr durchgeführt und die resultierende Spezifikation ist für das offene Web so giftig, dass Google an dieser Stelle zumindest eine Erklärung abgeben muss, wie es so weit kommen konnte.  

Was ist Webumgebungsintegrität? Es ist einfach gefährlich.

Die fragliche Spezifikation, die unter https://github.com/RupertBenWiser/Web-Environment-Integrity/blob/main/explainer.md beschrieben wird, heißt Web Environment Integrity. Die Idee dahinter ist ebenso einfach wie gefährlich. Es würde Websites mit einer API ausstatten, die ihnen mitteilt, ob dem Browser und der Plattform, auf der er gerade verwendet wird, ein vertrauenswürdiger Dritter (ein sogenannter Attester) vertraut. Die Details sind unklar, aber das Ziel scheint darin zu bestehen, „falsche“ Interaktionen mit Websites aller Art zu verhindern. Obwohl dies wie eine noble Motivation erscheint und die aufgeführten Anwendungsfälle sehr vernünftig erscheinen, ist die vorgeschlagene Lösung absolut schrecklich und wurde bereits mit DRM für Websites gleichgesetzt, mit allem, was dazu gehört. 

 Interessant ist auch, dass es beim ersten aufgeführten Anwendungsfall darum geht, sicherzustellen, dass Interaktionen mit Anzeigen echt sind. Auch wenn dies oberflächlich betrachtet kein Problem darstellt, deutet es doch auf die Idee hin, dass Google bereit ist, alle Mittel zu nutzen, um seine Werbeplattform zu stärken, ungeachtet des potenziellen Schadens für die Nutzer des Webs. ​Obwohl der Text das unglaubliche Risiko erwähnt, das mit dem Ausschluss von Anbietern einhergeht (lesen Sie, andere Browser), wird nur ein lauer Versuch unternommen, das Problem anzugehen, und am Ende gibt es keine wirkliche Lösung.  

Was ist also das Problem?  

Wenn eine Entität einfach entscheiden kann, welche Browser vertrauenswürdig sind und welche nicht, gibt es keine Garantie dafür, dass sie einem bestimmten Browser vertrauen wird. Jeder neue Browser wird standardmäßig nicht als vertrauenswürdig eingestuft, bis er auf irgendeine Weise nachgewiesen hat, dass er vertrauenswürdig ist. Dies liegt im Ermessen der Prüfer. 

Außerdem würde jeder, der nicht mehr mit veralteter Software arbeitet, bei der diese Spezifikation nicht unterstützt wird, irgendwann vom Web ausgeschlossen werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass das wichtigste Beispiel für einen Attestierer Google Play auf Android ist. Das heißt, Google entscheidet, welcher Browser auf seiner eigenen Plattform vertrauenswürdig ist. Ich sehe nicht ein, wie man von ihnen Unparteilichkeit erwarten kann.  

Unter Windows würden sie sich wahrscheinlich über den Windows Store an Microsoft wenden, und unter Mac würden sie sich an Apple wenden. Wir können also davon ausgehen, dass zumindest Edge und Safari vertrauenswürdig sind. Jeder andere Browser bleibt den Gunsten dieser drei Unternehmen überlassen.

Natürlich fällt Ihnen im vorherigen Absatz eine eklatante Auslassung auf. Was ist mit Linux? Nun, das ist die große Frage. Wird Linux vollständig vom Surfen im Internet ausgeschlossen? Oder wird Canonical durch die Kontrolle der Snaps-Paket-Repositorys zum Entscheider? Wer weiß. Aber für Linux sieht es nicht gut aus.  

Das allein wäre schon schlimm genug, aber es kommt noch schlimmer. Die Spezifikation weist stark darauf hin, dass ein Ziel darin besteht, sicherzustellen, dass echte Menschen mit der Website interagieren. Es wird in keiner Weise klargestellt, wie dies erreicht werden soll, daher bleiben uns einige große Fragen, wie dies erreicht werden soll. Werden Verhaltensdaten verwendet, um festzustellen, ob sich der Benutzer menschenähnlich verhält? Werden diese Daten den Attestierern vorgelegt? Werden Barrierefreiheitstools, die auf der Automatisierung der Eingabe in den Browser basieren, dazu führen, dass dieser nicht mehr vertrauenswürdig ist? Wird es Erweiterungen betreffen?  

Die Spezifikation sieht derzeit zwar eine Ausnahmeregelung für Browsermodifikationen und -erweiterungen vor, diese können jedoch die Automatisierung von Interaktionen mit einer Website trivial machen. Entweder ist die Spezifikation also nutzlos oder es werden irgendwann auch dort Einschränkungen angewendet. Ansonsten wäre es für einen Angreifer trivial, das Ganze zu umgehen.  

Können wir uns einfach weigern, es umzusetzen? 

Leider ist es dieses Mal nicht so einfach. Jeder Browser, der sich dafür entscheidet, dies nicht zu implementieren, wäre nicht vertrauenswürdig und jede Website, die sich für die Verwendung dieser API entscheidet, könnte daher Benutzer dieser Browser ablehnen.  

Google verfügt auch über Möglichkeiten, die Akzeptanz durch Websites selbst zu steigern. Erstens können sie ganz einfach alle ihre Eigenschaften von der Verwendung dieser Funktionen abhängig machen, und die Nichtnutzung von Google-Websites ist für die meisten Browser bereits ein Todesurteil. Darüber hinaus könnten sie versuchen, Websites, die Google Ads verwenden, vorzuschreiben, diese API ebenfalls zu verwenden, was sinnvoll ist, da das erste Ziel darin besteht, gefälschte Anzeigenklicks zu verhindern. Das würde schnell dafür sorgen, dass jeder Browser, der die API nicht unterstützt, dem Untergang geweiht wäre. 

Es gibt Hoffnung.

Es besteht eine überwältigende Wahrscheinlichkeit, dass das EU-Recht einigen wenigen Unternehmen keine weitreichende Entscheidungsbefugnis einräumen wird, welche Browser zulässig sind und welche nicht.  

Es besteht kein Zweifel, dass die Prüfer einem enormen Druck ausgesetzt wären, so fair wie möglich zu sein. Leider sind Gesetzgebungs- und Justizapparate in der Regel langsam, und es lässt sich nicht sagen, wie viel Schaden entstehen wird, während Regierungen und Richter dies prüfen.  

Wenn dies vorangetrieben wird, wird es eine schwierige Zeit für das offene Web und könnte kleinere Anbieter erheblich beeinträchtigen. Es ist seit langem bekannt, dass Googles Dominanz auf dem Webbrowser-Markt das Potenzial hat, zu einer existenziellen Bedrohung für das Web zu werden. Mit jeder schlechten Idee, die sie auf den Tisch brachten, wie FLOC, TOPIC und Client Hints, kamen sie der Verwirklichung dieses Potenzials näher.  

Bei Web Environment Integrity handelt es sich eher um das Gleiche, aber auch um einen Schritt über den Rest, was die Bedrohung angeht, die es darstellt, insbesondere da es dazu genutzt werden könnte, Microsoft und Apple zur Zusammenarbeit mit Google zu ermutigen, um den Wettbewerb sowohl im Browser- als auch im Betriebssystembereich einzuschränken.  

Es ist unbedingt erforderlich, dass sie darauf aufmerksam gemacht und daran gehindert werden, voranzukommen. ​Während unsere Wachsamkeit es uns ermöglicht, all diese Versuche, das Web zu untergraben, zu bemerken und uns dagegen zu wehren, besteht die einzige langfristige Lösung darin, Google zu gleichen Wettbewerbsbedingungen zu verhelfen. Da hilft die Gesetzgebung, aber auch die Reduzierung ihres Marktanteils.  

Ebenso wird unsere Stimme für jeden Vivaldi-Benutzer stärker, sodass wir in diesen Diskussionen effektiver sein können. Wir hoffen, dass die Nutzer des Internets dies erkennen und ihre Browser entsprechend auswählen. ​Der Kampf dafür, dass das Internet offen bleibt, wird langwierig sein und es steht viel auf dem Spiel. Lasst uns gemeinsam kämpfen.  

Julien Picalausa (Vivaldi)

Freitag, 13. November 2015

Werbeblocker verbreiteter als vermutet

Werbeblocker sind verbreiteter als man denkt. Gemäss einer Untersuchung des Online-Vermarkterkreises des deutschen Bundesverbandes Digitale Wirtschaft werden auf 21,49% aller aufgerufenen Seiten die Reklamen geblockt. Nun will der Verband die Blockierrate regelmässig erheben.

In seinem Kommunique schreibt er, die Werbeunterdrückung füge der digitalen Wirtschaft einen erheblichen Schaden zu. Vielen Nutzern fehle offensichtlich noch das Bewusstsein für die Bedeutung für die Finanzierung von Internetangeboten.

Diese Aussage ist etwas zu einfach geraten. Erstens sind die Werbeblocker eine direkte Folge der überbordenden Werbeindustrie. Aufklappende Fenster, blinkende Inserate, selbtätig ablaufende Filme, Inserate, welche Inhalte überdecken verärgern viele Benutzer und lassen sie zum Zweihänder greifen. Zweitens bieten Werbeanbieter auch Kreti und Pleti an auf ihren privaten Seiten oder Blogs Reklame zu schalten und theoretisch (nach 1000 Klicks) ein paar Rappen zu verdienen. Auch dies führt zu einem Überangebot. Drittens ist es verständlich, wenn eine Tageszeitung ihre Internetausgabe mit Inseraten mitfinanziert. Wenn sich jedoch der zahlende Abonnent der digitalen Ausgabe all' diese Reklamen auch noch anschauen oder zumindest wegklicken muss, ist es nachvollziehbar, dass er einen Werbeblocker installiert.

Bekannte Werbeblocker sind Adblock Plus, der jedoch nichtstörende Werbung in der Grundeinstellung passieren lässt. Der Werbeblocker nennt sich entsprechend "für ein Internet ohne nervige Werbung". Wer alles ausblenden will, muss dies explizit so einstellen. Von Haus aus alles blockiert AdBlock von Michael Gundlach. Ein prozessorfreundlicher und bescheidener Werbeblocker ist µBlock. Er ist äusserst effizient und weist sowohl einen geringen Speicherbedarf und eine niedrige CPU-Belastung auf. Gleichzeitig werden Tausende an Filtern.

Montag, 5. Januar 2015

Ist die Privatsphäre noch zu retten?

Foto:  Nimkenja
Unter diesem provokativen Titel publizierte die Neue Zürcher Zeitung einen Meinungsbeitrag von Béatrice Acklin Zimmermann:

In vielen Barockkirchen begegnet einem oberhalb des Hauptaltars das «Auge Gottes», ein Dreieck mit einem stilisierten Auge in der Mitte, das symbolisieren soll: Gott ist überall, er sieht alles. An die Stelle des allgegenwärtigen «Auges Gottes» scheint heute das Auge des Internets getreten zu sein: Ob Nacktbilder von sogenannten Prominenten oder Einkaufs- und andere Vorlieben, nichts und niemand scheint dem wachsamen Blick des Internets zu entgehen. Jede aufgerufene Website, jede geschriebene E-Mail, jede verschickte Foto – nichts bleibt im Internet verborgen oder vergessen, was ich tue und treibe, ist seinem panoptischen Blick ausgeliefert.

Totale Transparenz
Nicht mehr das «Auge Gottes», sondern nunmehr der fremde Blick des Internets scheint heute Disziplinierungsmittel und moralischer Imperativ für die totale Transparenz zu sein. Diesen Eindruck vermittelt zumindest die Aussage von Google-Chef Eric Schmidt: «Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun.» Noch zugespitzter äussert sich der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler über den «fremden Blick des Internets»: «Er ertappt mich in meinem bewusstlosen routinierten Treiben. So ertappt, muss ich wählen: Stehe ich zu dem, was ich tue? Muss ich mich unter dem fremden Blick ändern?» Das Internet als quasireligiöse Instanz, die mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe und in welcher Hinsicht ich mich ändern bzw. bekehren muss?

Wer im Internet einkauft, Geldüberweisungen tätigt und Flüge bucht, hinterlässt eine so lange Datenspur, dass einem die Aufregung über die in früheren Jahren im Rahmen der Volkszählungen gesammelten Datenmenge geradezu lächerlich vorkommen muss. Im Unterschied zu damals hat sich
heute über die ganze Gesellschaft ein unsichtbares Überwachungsnetz gespannt, das die Geheimhaltung persönlicher Informationen und Bewegungen erschwert und eine Aufweichung der Privatsphäre bewirkt. Gleichzeitig ist eine Dauerpräsenz von Privatem im öffentlichen Bereich zu beobachten: Der Beichtstuhl wird in die Talkshow verlegt, die Absolution erfolgt vor laufender Kamera – Stichwort «Selfiegate».

Gefahren drohen der Privatheit gleich von mehreren Seiten: Ob auf Bahnhöfen, Autobahnen oder Schulhöfen, ob ich gehe oder liege, der Blick der zahlreichen Videoinstallationen beobachtet mich, sobald ich die vor die eigene Haustüre trete. Und die schöne neue Welt der Biometrie erlaubt nicht nur zahlreiche persönliche Informationen über die Inhaber des elektronischen Reisepasses, sondern sie lässt aufgrund des genetischen Fingerabdrucks auch Aussagen über deren Verwandte zu. Auch die Tatsache, dass mit der Revision des Gesetzes über die Post- und Fernmeldeüberwachung die Vorratsdatenspeicherung erheblich ausgebaut worden ist, hat nur verhaltenen Protest hervorgerufen. Die Über wachung privater Freiheit und das Observieren durch einen Staat, in dem immer mehr Bürger eine Art Sicherheits agentur sehen, scheint gesellschaftlich grösstenteils akzep tiert zu sein.
Steht die Privatheit angesichts all der Bedrohungen, durch den Staat ebenso wie durch Private, nicht auf gänzlich verlorenem Posten? Befinden wir uns auf dem Weg in eine «Post-privacy-Gesellschaft»? Ist Privatheit überhaupt noch zeitgemäss, wo der Zeitgeist laut dem Soziologen Wolfgang Sofsky Bekanntheit doch weitaus höher schätzt als Privatheit?

Privatheit ist der Feind jeder Diktatur
Wer Privatheit als überholt und nicht mehr zeitgemäss be trachtet, verkennt, dass es dabei nicht um Geheimniskrämerei oder Gesellschaftsmüdigkeit, sondern um einen wesentlichen Teil der persönlichen Freiheit geht. Dass ohne das Grundrecht auf Privatheit eine freiheitliche Gesellschaft nicht möglich und Privatheit der Feind jeder Diktatur ist, zeigt sich an tota litären Staaten: Wer sich ständig überwacht und beobachtet weiss, sieht sich zur Konformität gezwungen.

Die Reservate der Privatheit ermöglichen es hingegen, frei von fremden Einflüssen aller Art Entscheide autonom zu tref fen, persönlichen Vorstellungen ungehindert nachzugehen und Dinge zu sagen, die sich nicht dem Diktat der Political Correctness unterwerfen. Wer sich, und sei es auch nur aus Bequemlichkeit oder Trägheit, der zunehmenden Ausdün nung von Privatheit nicht entgegenstellt, nimmt in Kauf, dass Autonomie und Selbstbestimmung ihre Grundlage verlieren. Es muss zu denken geben, dass das Bewusstsein für den Verlust der Privatheit bei einer breiten Öffentlichkeit kaum vorhanden ist und die hiesige Politik wenig zu beschäftigen scheint. Wird gelegentlich doch die Forderung nach vermehrtem Schutz der Privatsphäre erhoben, so bleibt diese isoliert und auf einen einzelnen Bereich beschränkt, wie entsprechende Bemühungen im Zusammenhang mit der Aufweichung des Bankgeheimnisses gezeigt haben.

Es wäre deshalb zu wünschen, dass sich eine stabile Lobby für das Recht auf Privatheit formiert, die gegen den Zeitgeist den Schutz der Privatheit energisch, konsequent und umfassend verteidigt.

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Scharfe Debatte um Netzneutralität

Auch Sir Tim Berners-Lee, der Begründer des World Wide Web und Erfinder der Computersprache HTML, hat sich in die Debatte um die Netzneutralität eingeschaltet. Er plädierte im britischen «Guardian» für die Netzneutralität, ebenso wie Steven Wozniak, Mitgründer von Apple, der sich in einem offenen Brief im Magazin «The Atlantic» besorgt äusserte. Selbst der beliebte Komiker John Oliver widmete dem Thema eine ganze Sendung, woraufhin die Server der FCC mit 300 000 E-Mails und Kommentaren überhäuft und vorübergehend lahmgelegt wurden. Viele Kritiker befürchten auch, dass die Telekommunikationskonzerne die erhobenen Gebühren gar nicht nutzen werden, um die Infrastruktur auszubauen und Datenstaus zu verhindern, sondern die Einnahmen als Gewinn einstecken wollen.
Verschärfend für die Debatte kommt hinzu, dass sowohl einige Netzanbieter wie auch IT-Konzerne angefangen haben, ihr Geschäftsmodell zu verändern und vertikal zu integrieren: Sie wollen künftig die komplette Wertschöpfung von der Erstellung der Inhalte bis zu deren Übertragung an den Endnutzer aus einer Hand leisten können. Google erwägt beispielsweise, sich an einem Glasfaserkabel unter dem Pazifik zu beteiligen und so seine eigenen Inhalte, die grösstenteils auf Servern in Nordamerika stehen, schnellstmöglich nach Asien, dem bevölkerungsreichsten Kontinent, übertragen zu können. Damit würde der IT-Konzern seine marktmächtige Stellung ausbauen und sich von den Netzbetreibern unabhängig machen, statt diesen Gebühren für schnelle Leitungen zahlen zu müssen.
Die wiederum geben sich nicht mehr damit zufrieden, nur Dienstleister für die Inhalte anderer zu sein: Comcast etwa hat sich am Streaming-Dienst Hulu beteiligt, einem direkten Konkurrenten von Netflix. Sollte die Netzneutralität tatsächlich aufgehoben werden, könnte Comcast seinen eigenen Streaming-Dienst bevorzugen, also Hulus Inhalte schneller übertragen als die von Netflix. Ebenso könnte Google auf der Glasfaserleitung seine eigenen Inhalte und die seiner Tochterfirmen priorisieren. Da die Auswirkungen wohl so eklatant wären, hat sich selbst der Verband deutscher Zeitungsverleger mittlerweile in die Debatte eingemischt und warnt vor einem «Albtraum demokratischer und marktliberaler Gesellschaften», sollten Netze und Inhalte vertikal integriert werden.
Der Kampf um Netzneutralität wird aber nicht nur in Internetforen, Medien und Parlamenten ausgetragen, er tobt auch an der Front der Lobbyisten. Comcast als – am Umsatz gemessen – weltgrösster Kabeldienstbetreiber gab allein 2013 18,8 Millionen Dollar für politische Einflussnahme aus und ist damit der zweitgrösste Lobbyist der USA. Die Ausgaben scheinen sich zu amortisieren: Vorsitzender der FCC wurde im vergangenen November Tom Wheeler , ein ehemaliger Toplobbyist amerikanischer Kabel- und Telekommunikationsfirmen – und Golfpartner von Barack Obama. Die Telekommunikationsfirmen werden nun also von einem Ehemaligen aus ihren eigenen Reihen beaufsichtigt. Derart pikante Details sind Wasser auf die Mühlen der Gegner der FCC-Pläne.
Auch wenn die Debatte um Netzneutralität in den USA am stärksten tobt, treibt sie auch andere Staaten um. Chile war das erste Land, das 2010 die Netzneutralität gesetzlich verankert hat . Seit dem 1. Juni dieses Jahres ist es dort Netzbetreibern sogar verboten, bestimmte Inhalte positiv zu diskriminieren, also etwa die Datenpakete von Facebook, Google oder Wikipedia nicht dem monatlichen Datenvolumen der Nutzer hinzuzurechnen. Solche Verletzungen der Netzneutralität sind auch bei deutschen und amerikanischen Anbietern bekannt, bisher hat aber nur Chile ihnen einen Riegel vorgeschoben.
Die Niederlande hielten die Netzneutralität zunächst 2011 im Mobilfunk, 2012 auch im Festnetz gesetzlich fest, allerdings mit einigen Ausnahmen versehen. Slowenien hat 2013 ein Gesetz verabschiedet, nach dem nur ein richterlicher Beschluss die Netzneutralität ausser Kraft setzen darf. In der Schweiz ist der Bundesrat mit einer derartigen gesetzlichen Neuregelung beauftragt (siehe Kasten). Auch in der Europäischen Union wird darüber diskutiert, die Netzneutralität in der geplanten Verordnung zum gemeinsamen Telekommunikationsmarkt festzuschreiben. Das EU-Parlament hat kürzlich einen entsprechenden Vorschlag verabschiedet, den derzeit der Ministerrat erörtert.

Gefahr des Monopols

Ob in der Europäischen Union, der Schweiz oder den USA, die Gesetzgeber sehen sich mit Grundsatzfragen konfrontiert: Soll der Staat die freien Kräfte des Marktes spielen lassen, also die bisher geltende Maxime der Netzneutralität fallen lassen? Möglicherweise riskiert man dann, dass eine Handvoll mächtiger Netzanbieter kontrolliert, welche Inhalte im Internet wie schnell übertragen werden. Man könnte jedoch argumentieren, dass in einem funktionierenden Markt die Endnutzer derartige Praktiken bestrafen und den Anbieter wechseln würden. Doch in ländlichen Regionen haben oft nur ein oder zwei Anbieter die «letzte Meile» an Leitungen zu den Haushalten verlegt. Laut einer FCC-Studie verfügen 80 Prozent der amerikanischen Bevölkerung nur über Zugang zu maximal zwei Kabelanbietern.
Sollte der Staat also stattdessen die Netzneutralität gesetzlich zementieren? Um das durchzusetzen, brauchte es wohl eine umfangreiche Überwachung und regulatorische Eingriffe, wie die Gesetze in Chile und den Niederlanden zeigen. Zudem herrscht schon heute aus Praktikabilitäsgründen keine absolute Neutralität: Netzbetreiber bevorzugen Datenpakete für Internettelefonie vor denen von E-Mails, weil bei Ersteren die Übertragung zeitkritischer ist. Eine gewisse technische Diskriminierung ist im Netz also durchaus nötig.
«Doch wo verläuft die Grenze bei dieser Diskriminierung? Und wer zieht sie?», fragt sich Urs Gasser. Er ist Direktor des Berkman Center for Internet and Society an der Harvard University in Boston, das sich mit Fragen der Netzneutralität auseinandersetzt. Derzeit stünden die Regulatoren vor einem Dilemma: Wenn sie jetzt die Situation falsch einschätzten und nicht intervenierten oder eben doch, könnten sie eine Monopolsituation begünstigen – entweder zugunsten der Netzanbieter oder der marktmächtigen Internetkonzerne. Und ein derartiges wie auch immer geartetes Monopol könnte die künftige Freiheit im Internet tatsächlich gefährden, so Gasser.
Ein Szenario, bei dem lokale Nachrichtenseiten diskriminiert würden, wäre dann wohl nur der Anfang.
Quelle: NZZ (erster und zweiter Teil am 1. und 15. September veröffentlicht)

Montag, 15. September 2014

Netzneutralität hat eine lange Vorgeschichte

Um die Dimension des Themas zu verstehen, muss man zunächst einen Schritt zurückgehen, zu den Anfängen des Internets. In den neunziger Jahren wurde dieses kommerziell nutzbar, zunächst aber nur zurückhaltend eingesetzt, etwa für E-Mails, Chat-Foren oder simpel gestaltete Webauftritte. Grosse Firmen und auch die Medienbranche unterschätzten jahrelang das Potenzial und die künftige Bedeutung des Netzes.
Als Infrastruktur für die Datenübertragung dienten damals wie vielerorts noch heute Kupferkabel, die auf der letzten Meile die Haushalte mit dem nächsten Knotenpunkt des Internets verbinden. Das ist aber auch das Einzige, was im Netz in den vergangenen 25 Jahren gleich geblieben ist. Videotelefonie, Musikstreaming und die Nutzung von Datenwolken haben sich geradezu explosionsartig vermehrt und werden qualitativ immer besser – verlangen aber auch immer höhere Bandbreiten. Die Infrastruktur dürfte in den kommenden Jahren noch stärker beansprucht werden: Die Telekommunikationsfirma Cisco erwartet eine knappe Verdreifachung des Datenvolumens bis 2018, wobei Videos dann einen Anteil von 80 Prozent ausmachen dürften.
Dass immer mehr Nutzer das Internet für immer datenintensivere Dienste brauchen und somit ihre Internetanschlüsse vollumfänglicher ausreizen, stellt die Telekommunikationsfirmen vor Probleme. Sie als Anbieter müssten allmählich die bestehende Infrastruktur, insbesondere die Hauptachsen des Netzes, ausbauen, um dem Wandel gerecht zu werden. Wie eine Autobahnstrecke, die im Laufe der Zeit immer beliebter geworden ist und irgendwann erweitert werden sollte, damit Staus vermieden werden, müssten die Netzanbieter in neue Leitungen investieren. Dafür wollen sie aber nicht alleine zahlen und argumentieren, die eigentlichen Profiteure einer schnelleren Infrastruktur seien grosse IT-Konzerne wie Amazon, Google – oder der in den USA äusserst beliebte Streaming-Dienst Netflix. Netflix überträgt TV-Serien und Filme per Internet und beansprucht dafür etwa ein Drittel der in den USA verfügbaren Datenbandbreite.
Wer viel Kapazität nutze, müsse auch dafür zahlen, fordern die Netzanbieter und lassen ihren Worten zurzeit in den Vereinigten Staaten Taten folgen: Der amerikanische Telekommunikationskonzern Comcast hat Netflix aufgefordert, zusätzliche Gebühren für den reibungslosen Transfer seiner Streaming-Dienste zu zahlen – also dafür, dass die Videos mit kontinuierlichem Datendurchsatz und ohne Ruckeln beim Endkunden ankommen. Um den Druck auf Netflix zu erhöhen, hat Comcast seit Herbst 2013 die Übertragungsgeschwindigkeit für Netflix' Inhalte reduziert, ähnlich wie auch die Anbieter AT&T und Verizon. Netflix hat schliesslich im Februar dem Druck nachgegeben – und profitiert seitdem von rasant schnellen Übertragungsgeschwindigkeiten bei Comcast (siehe Grafik).
Fast gleichzeitig hat die amerikanische Federal Communications Commission (FCC), also die staatliche Aufsichtsbehörde über die Kommunikation, einen Vorschlag zur Reform des Telekommunikationsgesetzes erlassen, um «das freie und offene Internet» zu sichern. Mit diesem würde das Verhalten von Comcast legalisiert. Das geplante Gesetz würde es Netzanbietern tatsächlich erlauben, das Internet zu einer zweispurigen Datenautobahn umzubauen: einer Spur für den normalen Verkehr und einer besonders schnellen, qualitativ besseren, aber gebührenpflichtigen Fahrbahn für Konzerne. Allerdings müssten derartige Bevorzugungen öffentlich gemacht werden und dürften Dritte nicht benachteiligen, wendet die FCC ein. Damit würden die USA als erstes Land weltweit mit dem Grundsatz der Netzneutralität brechen.

Aufschrei im Netz

Eine bemerkenswert breite Front hat sich innerhalb kürzester Zeit gegen die Pläne der FCC gebildet: In einem offenen Brief an die Behörde warnen 150 Technologiefirmen wie Amazon, Google, Facebook oder auch Netflix vor einer Zweiklassengesellschaft im Netz. Sie argumentieren, Startups wären so auf langsamere Datenleitungen beschränkt, was Innovation und Wettbewerb verhindern würde. Bisher profitieren besonders neugegründete Firmen davon, dass sie im Netz die gleiche Infrastruktur nutzen können wie etablierte Technologiekonzerne.
Quelle: M.L. in NZZ (siehe auch 1. Teil vom 1. September)

Montag, 1. September 2014

Google-News schneller geladen als Tagi oder NZZ?

Dass Kommunikation im Internet nicht sicher ist, weiss man spätestens seit den Enthüllungen über den amerikanischen Geheimdienst NSA. Nun rückt eine andere Frage in den öffentlichen Fokus: Wie neutral ist und sollte das Netz sein?
Man stelle sich folgendes Szenario vor: Abends auf der Couch möchte man sich über die Geschehnisse des Tages informieren, besucht also verschiedene Nachrichtenseiten im Internet. Doch die Artikel lokaler Zeitungen werden nur schleppend geladen, Videos der öffentlichrechtlichen TV-Sender ruckeln unerträglich – die einzigen Nachrichten, die schnell erscheinen, sind die grosser amerikanischer Konzerne wie Yahoo- oder Google-News. Etwas irritiert bleibt man bei deren Inhalten hängen und sucht sie künftig direkt auf.

Neue Produkte, alte Leitungen

So oder ähnlich könnte die Zukunft des Internets aussehen, würde die Netzneutralität aufgehoben. Hinter diesem abstrakt und bürokratisch anmutenden Begriff steckt nichts als die Tatsache, dass im Netz alle Daten mit gleicher Geschwindigkeit und Güte übertragen werden, unabhängig von ihrem Inhalt, Absender oder Empfänger. Ein Video auf der Plattform Youtube wird also genauso schnell oder langsam geladen wie eines des Konkurrenten Vimeo; die Website einer konservativen Zeitung oder Partei so schnell wie die einer sozialdemokratischen oder liberalen. Einzig der gewählte Internetanschluss eines Endnutzers limitiert die Geschwindigkeit, mit welcher die Daten übertragen werden.
Diese Neutralität war bisher ein ungeschriebenes Gesetz im Internet, doch nun ist darüber ein weltweiter Konflikt ausgebrochen, der zu Gesetzesinitiativen, Diskussionsrunden und Petitionen geführt hat. Internetpioniere melden sich zu Wort, die EU arbeitet an einem Gesetzesvorschlag, und amerikanische Lobbyisten versuchen mit Millionen von Dollars die Debatte zu beeinflussen. Auch in der Schweiz erwägt man, die Netzneutralität gesetzlich zu verankern.
Dabei geht es um Grundsätzliches: Gelten im Internet die Gesetze des freien Marktes und der Preisbildung? Oder ist das Netz ein öffentliches Gut, ein Medium der freien Meinungsäusserung, dessen Zukunft als solches es zu schützen gilt?

Quelle: M.L. in: NZZ

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Sklaverei im Buchhandel

Sie werden mit falschen Versprechen nach Deutschland gelockt und ähnlich wie Sklaven gehalten. Natürlich ist keiner der Leiharbeiter angekettet; er kann jederzeit gehen. Gehen zurück in die Arbeitslosigkeit.

Wenn etwas deutlich billiger ist, als überall sonst, stellt sich die Frage, wer die Differenz berappt, den geschenkt wird einem nichts. Diese Reportage des deutschen Fernsehens zeigt, wo und wie Amazon die Rabatte, die das Versandhaus den Kunden gewährt, einspart. Die paar Franken, die man hier spart, muss man gegen seine eigene Ethik und Moral aufwiegen.

Donnerstag, 7. März 2013

Internet zerstört Demokratie

Bild: Roosevelt Institute
Es ist eine gewagte These, welche der Politologe und Jurist Eli Pariser in seinem Buch «Filter-Blase» vertritt. Im angelsächsischen Raum war es wohl dasjenige Internet-Sachbuch, welches 2011 die höchsten Wellen warf. Unter dem zweisprachigen Namen «Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden» liegt es nun auch auf deutsch vor.

In seinem Buch «Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden» zeigt Eli Pariser minutiös auf, dass und wie sich das Internet seit 2009 grundlegend verändert. Von dieser Veränderung hat der Normalnutzer jedoch meistens nichts bemerkt. Diese Veränderungen beruhen auf der Kernstrategie der grossen Internetkonzerne, der Personalisierung. So eintsteht eine Filter-Blase, welche unseren Blick einengt und uns daran hindert, Dinge zu sehen, welche uns nicht interessieren.

Filterblase in der Praxis
Ist ein Internetbenutzer konservativen, verschwinden seine linken Freunde wahrscheinlich von seiner Facebook-Seite. Eli Pariser, der sich als links bezeichnet ist dies im umgekehrten Sinne geschehen: seine rechten Freund verschwanden. Oder wer nach einem banalen Begriff wie «Turnschuhe» sucht, bekommt bei Google andere Resultate als sein Partner oder seine Freunde. Ein einfacher Test zeigt dies schon auf: Nach Neustart des Browser werden in den Einstellungen die Verläufe und Cookies gelöscht. Anschliessend führt man eine Google-Suche durch und merkt sich die ersten paar Suchtreffer. Anschliessend wählt man sich bei G-Mail ein, öffnet einen neuen Tab und führt die exakt gleiche Suche noch einmal durch: Es werden andere Suchresultate geliefert, personalisierte Suchresultate. Das ist so, weil die Inhalte, die geliefert werden, unter anderem davon abhängen, was der Benutzer zuvor angeklickt hat, mit wem er befreundet ist, wie eng er mit diesen Leuten befreundet ist oder aber auch welche Dienste er sonst noch nutzt.

Die allermeisten Benutzer ist sich dabei nicht bewusst, dass er so wichtige Ereignisse oder entscheidende Ideen verpasst, schreibt Eli Pariser in seinem Buch. Gemäss seinen Recherchen produziert und verfeinert die Technik ohne Unterbruch eine «Theorie zur Persönlichkeit des Nutzers» und sage voraus, was dieser als Nächstes tun wolle. «Zusammen erschaffen diese Maschinen ein ganz eigenes Informationsuniversum für jeden von uns (...) – und verändern so auf fundamentale Weise, wie wir an Ideen und Informationen gelangen», schreibt Pariser.

Google und Facebook als Gefahr für die Demokratie
Da die Demokratie vom Diskurs, dem Austausch widersprüchlicher Ideen, von Debatten lebt, vertritt Pariser die These, dass die immer weiter fortschreitende Personalisierung im Internet eine Gefahr für die Demokratie darstellt. Nur wenn der Bürger in der Lage sei, über seine Partikularinteressen hinaus zu denken, ist eine lebendige Demokratie möglich. Durch die Personalisierung wird es nun aber zunehmend unwahrscheinlicher, online und offline Menschen kennenzulernen, welche anders denken, sich von einem unterscheiden und so gar nicht mehr mit unterschiedlichen Meinungen konfrontiert werden.

Von der während der Anfangsphase des Internets von vielen Denkern erhoffte «Kultur durch den Diskurs» sei heute nicht mehr viel übriggeblieben, schreibt Pariser, denn: «Die Personalisierung gibt uns etwas ganz anderes: einen durch Algorithmen sortierten und manipulierten öffentlichen Raum, der absichtlich fragmentiert wird und dem Dialog entgegensteht.»

Ausweg unwahrscheinlich
Für Pariser ist diese Entwicklung nicht unausweichlich. Die Benutzer könnten sich sehr wohl wehren: Die Menschen, welche das Internet nutzen, seien den Lobbyisten zahlenmässig weit überlegen. Auch gibt es viele kleinere Informatik-Unternehmen, die ein sehr grosses Interesse an einem «demokratischen, sozial gesinnten Internet» haben. Pariser meint, dass wenn viele Benutzer und Unternehmen sich für eine solche Entwicklung entschieden und die Stimme erhöben, bei Politikern intervenierten, Initiativen lancierten und die richtigen Volksvertreter wählten, «dann haben die Lobbyisten keine Chance». Dem steht die Bequemlichkeit der Personalisierung gegenüber…

Eli Pariser: «Filter Bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden» (Hanser Verlag, 22.30 Franken).

Dienstag, 29. Januar 2013

Vielleicht war das Opfer der Täter

Abends an der Bar,
ist nicht mehr alles klar
Eine deutsche Nachrichtenmagazin-Reporterin berichtete aufgeregt über eine Begegnung mit Brüderle, die ein Jahr zurückliegt. Dabei schrieb sie, als ob das Ereignisgleich jetzt  stattgefunden hätte, im Präsens, wie sie ein Politiker verbal belästigt habe. Der Leser ist mit dabei, jetzt, obleich es schon lange vorbei ist. Rainer Stadler fragt in der NZZ zu recht, wie «jemand eine Begegnung nach einem Jahr noch so genau wiedergeben kann» und ob die Journalistin die Aussagen damals sogleich aufgeschrieben habe, da sie immerhin zwischen Anführungszeichen gesetzt wurden und damit Genauigkeitvorgaukeln?

Erinnerungen verändern sich im Verlauf der Zeit, doch darüber schreibt die Reporterin nichts. Der Politiker hingegen schweigt. Wohl die einzige richtige Antwort auf solches Geschwätz, denn es gäbe nur ein Hickhack weiterer nicht nachprüfbarer Behauptungen. Der Medienanwalt Ralf Höcker legt mit einer fiktiven Darstellung der Konversation zwischen den beiden Kontrahenden anschaulich dar, wie die Begegnungen sich hätte abspielen können, wie je nach Sichtweise die «Wahrheit» ganz anders ist. Man kann sich fragen, weshalb, das deutsche Massenblatt dise Geschichte nach einem Jahr erst bringt, weshalb es sie überhaupt bringt, ob es dem Staat zuträglich ist, wenn die Presse Mandatsträger auf blossen Verdacht oder einseitige Aussage hin «in die Pfanne haut». Von der vielzitierten vierten Gewalt dürfte man mehr erwarten.

Dienstag, 20. Dezember 2011

Sie haben Post...
vom Weihnachtsmann aus Nigeria

Die Weihnachtstage stehen vor der Tür. Sei es als Geschenk in letzter Minute, sei es als Lektüre im eingeschneiten Chalet in den Bergen, dieses Buch verspricht ein guter Kauf zu sein!

Ein neues e-Mail im Briefkasten; von einem Unbekannten? Er fleht um Hilfe, eine tragische, nein hanebüchene Geschichte. Blind versandt an hunderte, vielleicht tausende Empfänger. Er brauche Geld für den Arzt oder den Anwalt. Wenn man im dieses vorschiesse, wäre er das Leben lang dankbar und bei seinem Ableben oder dem seiner alten Tante bekäme man einen Anteil des Erbe.

Die Juristen nennen dies "Vorschussbetrug" und im Internet verfängt es immer wieder. Auch Leute, die keinem Unbekannten einen Fünfliber gäben, fallen auf diese Masche hinein. Adaobi Trici Nwaubani ist Journalkistin aus Nigeria. In Ihrem Buch "Die meerblauen Schuhe meines Onkels Cash Daddy" nennt sie die Opfer mugu, auf gut deutsch Idioten. In ihrem Roman, preisgekrönt mit dem Commonwealth Writers' Prize, spielen die Geprellten jedoch nur eine Nebenrolle.

Nwaubani erzählt von Kingsley O. Ibe, der aus einer verarmten Beamtenfamilie stammt und trotz einer ausgezeichneten Ausbildung arbeitslos ist. Nach dem Tod seines Vaters kommt noch die Verantwortung für die Grossfamilie hinzu. Da kann nur noch Onkel Boniface helfen, genannt Cash Daddy, ein zwielichtiger, aber reicher Verwandter.

Boniface gibt Kingsley die Chance als Vorschussbetrüger nicht nur der Armut zu entkommen, sonder auch Vermögen zu bilden. Die elterlichen Erziehungsideale und aufkommende Schuldgefühle sind da hemmend und müssen zur Seite geschoben werden. Das mit einer hochmoralischen Mutter und luxusverliebten Geschwistern Konflikte vorprogrammiert sind, liegt auf der Hand.

Ohne Rührseligkeit gelingt es Nwaubani den Versendern dieser Scam-Mails ein Gesicht zu geben und ein sympathisches Bild zu zeichnen - ohne den Betrug zu verharmlosen. Vielmehr zeigt sie in ihrem Debütroman Gespür für Ironie, aber auch Sinn für schrägen Humor. Sie macht deutlich, dass der Internetbetrug aus der Perspektivenlosigkeit der jungen Generation Nigerias erwächst, welche die Gewinner des 419-Sam-Betrugs täglich in den Strassen mit ihrem Reichtum protzen sehen.
  • Leseprobe von Die meerblauen Schuhe meines Onkels Cash Daddy
  • Podcast: Dauer: 16:43 — 7.7MB

Photo: Women's Words: African Worlds

Montag, 1. März 2010

Virtuelle Pflaster für reelle Mängel

Wolfgang Bergmann und Gerald Hüther, der erste Therapeut, der zweite renommierter Hirnforscher, haben ein Buch geschrieben, wie Kinder mit den modernen Medien interagieren. «Computersüchtig - Kinder im Sog der modernen Medien» ist erwatungsgemäss mehr als nur Medienschalete. Das Buch hat sich in den vergangenen vier Jahren entsprechend zu einem oft zitierten Standardwerk gemausert.

Weshalb Computerspiele so faszinierend sind, erfährt der Leser in einem Schnellkurs zum bekannten Spiel WoW. Die Autoren sind überzeugt, dass dieses und ähnliche Spiele Jugendlichen das bieten, was sie im reellen Leben vermissen: klare Strukturen; spannende Aufgaben; das Gefühl, etwas bewirken zu können; Anerkennung; Erfolgserlebnisse. Der Griff zur Maus (und zum Computerspiel) ist der gleiche wie derjenige des «Beinamputierten zu Krücke».

Mit Fallbeispielen zeigen Bergmann und Hüther, dass die Folgen exzessiven Onlinespiels genauso verheerend sind, wie «stoffgebundene Süchte»; süchtige Kinder müssen nur noch sofort zurück an den Computer. Die Sehnsucht nach dem Glücksgefühl kann nur noch dort gestillt werden. Wenn immer die gleichen Methoden genutzt werden, um ein bestimmtes Gefühl zu erreichen, entstehen im Hirn eigentliche «Autobahnen». Um im Leben bestehen zu können, sind komplexe Strukturen und Netze im Hirn vonnöten. Diese entwickeln sich jedoch nur, wenn Jugendliche und auch schon Kinder «echte» Aufgaben erhalten.

Die in dieser Rezension durchdrückende Gesellschaftskritik findet sich auf jeder Seite des Buches wieder. Das Problem ist jedoch weder das Computerspiel, noch der PC selbst (der natürlich auch eine Spielkonsole sein kann). Das Problem ist vielmehr, die seit Jahren verarmende Lebenswelt unserer Kinder. In ihrer täglichen Arbeit erleben die Autoren die Nöte der Kinder und die sich daraus entwickelnde Computersucht. Das vorliegende Buch ist eine engagierte Bestandesaufnahme.

ISBN 3-407-22904-5, 2. Auflage bei Beltz, 2009, ca. 20 Franken.

Quelle: Lindau/ct


Freitag, 22. Januar 2010

Mittelalterliche Sippenhaftung

Jeder Händler ist frei, mit wem er Geschäfte macht. Wer seine Rechnungen stets pünktlich zahlt, ist als Kunde normalerweise gerne gesehen. Nicht so bei Amazon: Kunden werden nicht mehr beliefert, weil etwa der Lebenspartner der volljährigen Tochter eine Rechnung offen stehen hat.

Immer wieder wird über das Sammeln von Daten berichtet. Das grösste Problem ist aber vermutlich weniger das Sammeln und die Haltung der Daten, sondern die Auswertung und Verknüpfung. Immer häufiger sperrt zum Beipiel Amazon Kundenkonten, obwohl der entsprechende Kunde sich absolut nichts zuschulen liessen. Wie Amazon auf die Idee kommt, eine Lieferung nicht auszuführen, weil der Freund der 30jährigen Tochter des Bestellers (welche seit Jahren in einer anderen Gemeinde wohnt) eine Rechnung offen hat, ist nicht nachvollziehbar. Ebenso nicht nachvollziehbar ist, dass die nicht bekanntgegebenen Gründe nach einem Monat plötzlich nicht mir gelten - nämlich nachdem die Frankfurter Rundschau über diesen Fall mittelalterlicher Sippenhaftung berichtet hatte.

Wie das renommierte Magazin für Computer-Technik (c't) in seiner Ausgabe 1/2010 berichtet, liegen im diverse ähnlich gelagerte Fälle vor, wo auch Nachbarn oder zufällig gleich heissende Leute zu den Opfern des amerikanischen Internethändlers gehören. Zwar behauptet, dieser Konten nur zu sperren, wenn verschiedene Kriterien übereinstimmen, was im geschilderten Fall höchstens schwer nachvollziehbar ist.

Die Politik beginnt sich gerade in die Thematik des Datensammelns und der Datenspeicherung einzuarbeiten. In der Praxis stellt sich aber je länger desto mehr die Frage, wie die gesammelten Daten verarbeitet werden. Dies ist absolut undurchsichtig; gemäss c't werden die entsprechenden Algorithmen besser gehgütet als das Rezept von Coca-Cola. Wer mehr wissen will, der stösst auf eine Mauer des Schweigens: Die Datenauswerter verschanzen sich hinter jenem Datenschutz, der geschaffen wurde, um solches zu vermeiden. Es scheint, als würden wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los.

Quelle: c't 1/2010, p. 66 ff.

Freitag, 1. Januar 2010

Weshalkb die heile Welt seit 40 Jahren nicht kommt

Im Jahr 2000 wäre es undenkbar gewesen ein Natel zu haben, das leistungsfähiger ist als ein damals ein durchschnittlicher PC. Aber 2020 werden heutige Smartphones längst überholt sein.

Die Technik wird weiterhin schnellere und intelligentere Geräte hervorbringen. Zunehmend mit Sensoren und Speicherbausteinen ausgestattet, werden sie unsere Aktivitäten aufzeichnen und digitale Dossiers erstellen - um zu verankern, was unserem Gedächtnis entgeht, die Informationsflut zu kanalisieren und uns bei Entscheidungen zu helfen, hoffen die Forscher. Dabei verfügen wir mit dem

Immer schneller - immer besser?

Vorhersagen zur Entwicklung der Technik tönen futuristisch, übertrieben und machen Angst. Kurzfristige Prognosen neigen jedoch dazu, übertrieben zu sein, während langfristige die grossen Veränderungen unterschätzen.

Aber wenn man die Veränderungen der letzten zehn Jahre versucht auf die nächste Dekade fortzuschreiben, muss man in diese Richtung schauen. Das Moore'sche Gesetz, wonach sich die Prozessorleistung alle zwei Jahre verdoppelt, ist bislang immer noch gültig.

1988 hatte ein Mac einen Arbeitsspeicher von 4 Megabyte, 2000 von 64 - heute ist er 60mal so gross. Die Festplatte konnte 1999 10 Gigabyte aufnehmen - heute gibt es keine Modelle unter 500 GB. Vor zehn Jahren musste man Modems ins Telefonnetz einstecken und mühsam konfigurieren, heute ist Breitband zum einstecken und lossurfen Standard.

Immer mehr virtuell - geht die Realität verloren?

Mit zunehmender Leistung der Geräte und schnelleren Verbidnungen verbringen die Menschen einen zunehmend grösseren Teil ihrer Zeit im Netz. Die Benutzer von Laptops und Smartphones erwarten, dass sie auch unterwegs überall eine Internet-Verbindung vorfinden.

Die digitale Fotografie hat den Analogfilm abgelöst, auf den Festplatten stapeln sich Bilderberge und Musik - wer schaut oder hört sich das alles noch an? In wenigen Sekunden einen Blog aufsetzen oder ein Profil in einem sozialen Netzwerk erstellen ersetzten das umständliche programmieren an der ganz privaten Homepage vor. Bei Facebook oder Twitter fliessen die Beiträge der Millionen Benutzer. Dabei verwischen die Grenzen zwischen privat und öffentlich.

Forrester Research erwartet, dass bis 2020 alle Informationen im Netz sofort und überall verfügbar sind. Es werde dazu kommen, dass man auf einer wissenschaftlichen Konferenz jemanden treffe und sofort dessen aktuelle Forschungsvorhaben aufrufen kann, ebenso wie den längst vergessenen Vornamen des Ehepartners. Software wird sich alles merken, was man eingekauft, online gelesen oder im Fernsehen angeschaut hat. Und ein «Smart Filter» wird aufgrund der Auswertung solcher Daten Empfehlungen für ein neues Buch oder das nächste Abendessen geben.

Alle 10 Jahre wieder: Stimme, Gesten, Handschrift

Microsoft, erwartet, dass wir kurz vor einer Ära von digitalen Geräten stehen, die auf unsere Stimme und auf Gesten reagieren und die unsere Handschrift erkennen. Die bereits 1970 von Xerox entwickelten, 1987 von Apple angekündigten «Digitalen Assistenten» werden sich (nun endlich!) unsere jeweiligen Bedürfnisse anhören und dabei helfen, diese zu erfüllen, etwa bei der Suche nach einer Wohnung in einer neuen Stadt. [Der verlinkte Werbespot von 1987 ist sehenswert und erlaubt es, die Verheissungen von heute mit der nötigen Distanz zu sehen.]

Die mobilen Geräte werden von schnelleren Verbindungen profitieren, von leistungsstarken Computernetzen, die eine Vielzahl von Informationen, Anwendungen und anderen Diensten bereitstellen. Manny Vara von Intel Labs erwartet, dass so auf Auslandsreisen auch innerhalb von Sekunden die Übersetzung von gesprochenen Sätzen ermöglicht. In einem anderen Szenario stellt sich Vara eine intelligente Gesichtserkennung vor: Eine am Körper befestigte Kamera nimmt dann das Bild von Personen auf und schickt es zur Auswertung ins Netz.

Wie die alten sungen...

Bekanntlich wird die Suppe nie so heiss gegessen, wie man sie kocht. Die Verheissungen der Forscher für die kommende Dekade erinnern frappant an die Träume in der «New Economy»-Blase, als plötzlich alles technisch möglich erschien. Sicher wird die Zuname an Rechenleistung und Miniaturisierung weiterhin zunehmen. Und dies wird mehr ermöglichen. Doch bis jetzt kranken grundsätzliche Entwicklungen seit Jahrzehnten an den gleichen Problemen. Schrift-, Stimm- und Bilderkennung sind noch nicht wesentlich weiter als vor zwanzig Jahren, nur lässt sich dies mit erhöhter Rechenleistung einigermassen überspielen.

Der Schutz der Privatsphäre bleibt die immense Herausforderung, solange sich in der Gesellschaft noch Überreste der diesbezüglichen Errungenschaften erhalten. Und ganz zum Schluss: Wem es gelingt, nicht nur Daten zu sammeln, organisieren und aufzubereiten, sondern auch nach ihrem Sinn zu erschliessen, dem sage ich eine goldene Karriere voraus.

Quelle: TA

Dienstag, 1. Dezember 2009

Rettet die Privatsphäre

Eine Privatsphäre gibt es heute praktisch nicht mehr. Menschen betreiben digitalen Exhibitionismus im Internet, Unternehmen jubeln über gläserne Kunden, aber viele Menschen fürchten die neue Offenheit.

Lew McCreary geht in einem interessanten Aufsatz auf die manigfaltigen Facetten der Privatsphäre ein: Wie rettet man die Privatsphäre? Schimpf und Schande im Internet. Wer die Privatsphäre schützt. Was eine Frage der Generation ist. Wo der Teufel im Detail steckt und warum Datenschutz so wichtig ist. Der Aufsatz ist auf der Seite des Harvard Business-Manager frei zugänglich.

Kapitel 1 (Teile 1-4)
Kapitel 2 (Teile 1-4)

Mittwoch, 25. November 2009

Von Bären und Ethik

Ein lesenswerter Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung über sich stellende Fragen nach glimpflich verlaufenen Umfällen mit Menschen in Bärengehegen in letzter Zeit wirft selbst Fragen auf: Kommt der Mensch vor dem Tier? Und: Wie steht es mit der Ethik der Informationsvermittler?

Im Notfall müsse die ethische Frage «Mensch oder Tier?» zugunsten des Menschen entschieden werden, schrieb die NZZ am 24. November 2009. Dachte ich ich auch. Doch während dem Lesen kamen erste Zweifel auf: Wenn jemand über den Zaun klettert, den Graben überspringt und eine Mauer überwindet, um in ein Bärengehege zu gelangen und der Bär sich dann natürlich verhält, indem er sein Revier verteidigt, soll dann «Mensch vor Tier» absolut gelten und gegebenenfalls der Bär geschossen werden? Im Falle eines Unfalls wäre die Antwort für mich klar, aber in den im Laufe der letzten Zeit vorgekommenen Fällen (Mutter rennt mit Kinderwagen im Nationalpark einem Bären nach, jemand klettert in Berlin ins Bärengehege, desgleichen in Langenberg «um dem Bären hoi zu sagen» und kürzlich in Bern)? Da habe ich keine Antwort mehr.

Die NZZ weist hingegen richtigerweise auf die Rolle der meistgelesenen (und gehörten und geschauten) Medien hin: Sowohl der Bär im Nationalpark, als auch der «Waisenbub» in Berlin wurden oft als quasi lebendiger Teddybär dargestellt, als Wesen, wie Balu im Disney-Film. Und da stellt sich die ethische Frage nicht mehr nur «Mensch oder Tier», sondern viel mehr auch der Informationsvermittlung. Wieweit tragen die Massenmedien im Kampf um Auflagezahlen, Unterhaltung und Infotainment vor allem bei der urbanen Bevölkerung zu einem hier grobfahrlässig falschen Bärenbild bei?