Montag, 1. März 2010

Virtuelle Pflaster für reelle Mängel

Wolfgang Bergmann und Gerald Hüther, der erste Therapeut, der zweite renommierter Hirnforscher, haben ein Buch geschrieben, wie Kinder mit den modernen Medien interagieren. «Computersüchtig - Kinder im Sog der modernen Medien» ist erwatungsgemäss mehr als nur Medienschalete. Das Buch hat sich in den vergangenen vier Jahren entsprechend zu einem oft zitierten Standardwerk gemausert.

Weshalb Computerspiele so faszinierend sind, erfährt der Leser in einem Schnellkurs zum bekannten Spiel WoW. Die Autoren sind überzeugt, dass dieses und ähnliche Spiele Jugendlichen das bieten, was sie im reellen Leben vermissen: klare Strukturen; spannende Aufgaben; das Gefühl, etwas bewirken zu können; Anerkennung; Erfolgserlebnisse. Der Griff zur Maus (und zum Computerspiel) ist der gleiche wie derjenige des «Beinamputierten zu Krücke».

Mit Fallbeispielen zeigen Bergmann und Hüther, dass die Folgen exzessiven Onlinespiels genauso verheerend sind, wie «stoffgebundene Süchte»; süchtige Kinder müssen nur noch sofort zurück an den Computer. Die Sehnsucht nach dem Glücksgefühl kann nur noch dort gestillt werden. Wenn immer die gleichen Methoden genutzt werden, um ein bestimmtes Gefühl zu erreichen, entstehen im Hirn eigentliche «Autobahnen». Um im Leben bestehen zu können, sind komplexe Strukturen und Netze im Hirn vonnöten. Diese entwickeln sich jedoch nur, wenn Jugendliche und auch schon Kinder «echte» Aufgaben erhalten.

Die in dieser Rezension durchdrückende Gesellschaftskritik findet sich auf jeder Seite des Buches wieder. Das Problem ist jedoch weder das Computerspiel, noch der PC selbst (der natürlich auch eine Spielkonsole sein kann). Das Problem ist vielmehr, die seit Jahren verarmende Lebenswelt unserer Kinder. In ihrer täglichen Arbeit erleben die Autoren die Nöte der Kinder und die sich daraus entwickelnde Computersucht. Das vorliegende Buch ist eine engagierte Bestandesaufnahme.

ISBN 3-407-22904-5, 2. Auflage bei Beltz, 2009, ca. 20 Franken.

Quelle: Lindau/ct


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