Dienstag, 20. März 2012

Alte Filmrollen: Ausschuss oder Kulturgut?

Jahrzehntelang wurden Filmkopien nach ihrer Auswertung im Kino vernichtet: als Abfall, der nicht mehr interessierte - aus dem aber auch keine weiteren Gewinne mehr gezogen werden sollten. Filmliebhaber, die einzelne Titel vor der Auslöschung retteten, legten so die Grundsteine zu den viel später auch von den Verleihern alimentierten Kinematheken.

In den ersten Jahren des Films, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, war die Sache klar: Filmkopien waren zum Verbrauch bestimmt. Die (damals noch kurzen) Filmrollen wurden so oft durch den Projektor gekurbelt, bis sie kaputtgingen oder bis das Publikumsinteresse nachliess und mit neuen Sujets geködert werden musste. Das abgespielte Material wurde weggeworfen. Selbst dem originalen, in der Kamera belichteten Negativ drohte dasselbe Schicksal: Nach der Anfertigung einer gewissen Anzahl von Kopien wurde es ebenfalls unbrauchbar. Erfolgreiche Sujets, nach denen weiterhin eine Nachfrage bestand, wurden flugs nochmals gedreht.

Erste Filmarchive
Wer Filme ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt der kurzlebigen, weil für einen sich rasch sättigenden Markt bestimmten Ware sah, für den war die nicht mehr gefragte Filmkopie logischerweise Abfall, aus dem sich allenfalls das Silber der fotografischen Schicht zurückgewinnen liess. Diese Logik liess nach dem Siegeszug des Tonfilms Ende der 1920er Jahre auch die Stummfilme als obsolet erscheinen. Deshalb ist aus den ersten Jahrzehnten des Films nur ein kleiner Bruchteil der Werke erhalten.

An diesem Punkt regten sich die ersten Bestrebungen, Filmarchive zu schaffen. Die immer wieder beschriebene (und dann auch selbst zum Filmbild gewordene) Gründungslegende schildert, wie Henri Langlois in Paris mit einigen Freunden und einem Handkarren aus dem Lager eines Schrotthändlers der Entsorgung harrende Filmrollen entwendete, um die Stummfilmschätze für die Nachwelt zu retten. Denn spätestens in den zwanziger Jahren hatte sich ein Publikum gebildet, das im Film nicht nur ein flüchtiges Divertissement sah, sondern ein ernstzunehmendes Kulturprodukt, ja: die Kunstgattung des 20. Jahrhunderts.

Die Marktlogik widersetzte sich noch lange der öffentlichen Archivierung von Filmen. Nur langsam begannen längerfristig denkende Firmen in den Lagerungskosten Investitionen zu sehen, die sich auf die Dauer doch lohnen könnten, und deshalb die eigenen Produktionen aufzubewahren. Verleihkopien aber sollten (und sollen bis heute) aus der Zirkulation gezogen werden, um unautorisierte Aufführungen nach dem Ablauf der Lizenzfrist zu verhindern und um Platz für Neues auf dem Markt zu schaffen. Während Jahrzehnten sahen die Verleihverträge daher vor, dass der Lizenznehmer die - von ihm bezahlten - Filmkopien bei Vertragsende zu vernichten und die Kosten für diese «Abfallentsorgung» zu tragen hatte.

Findige Filmliebhaber machten sich dies zunutze. Der Basler Sammler Edwin Hofmann etwa erzählte gerne mit einer Mischung von Verlegenheit und Stolz, dass er sich Briefpapier drucken liess, auf dem er als «Filmvernichtungsanstalt» jeweils den Schweizer Verleihfirmen attestierte, dass ihre Kopien ordnungsgemäss entsorgt worden seien. Die Verleiher waren froh, dass jemand den Kopienabfall gratis bei ihnen abholte; Hofmann freute sich über die Bereicherung seiner klandestinen Sammlung. Eine dankbare Basler Öffentlichkeit sollte ihm seine Kinoapparate und Filmkopien Anfang der achtziger Jahre abkaufen. Aus dem Abfall war geschätztes Kulturgut geworden.

Als die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, die den Filmbestand der früheren UFA und anderer in deutschen Staatsbesitz gelangter Produktionsfirmen verwaltet, Ernst Lubitschs Komödie «Die Bergkatze» (1921) restaurieren wollte, stellte sich heraus, dass sich davon in Deutschland keine vollständige Kopie mehr fand. Man suchte weltweit nach weiteren, möglicherweise weniger oder anders gekürzten Kopien. In der restaurierten Fassung des Films stammt nun eine kurze Passage aus der «Bergkatze»-Kopie, die Edwin Hofmann seiner Sammlung einverleibt hatte.

An die Stelle der beglaubigten Kopienvernichtung ist seit den siebziger Jahren international die Praxis getreten, die Filmkopien nach Lizenzablauf einem anerkannten öffentlichen Archiv - in der Schweiz der Cinémathèque suisse in Lausanne - zu übergeben. Neue Auswertungsformen wie Fernsehen, Videokassetten und DVD haben den einst geringgeachteten alten Filmen auch in den Augen der Produzenten wieder zu neuer Wertschätzung verholfen. In vielen Fällen besassen sie jedoch nur noch die Aufführungsrechte, nicht aber Negativmaterial oder eine vorführbare Kopie. Die Archive, die einst, strenggenommen, einen guten Teil ihrer Schätze in der Illegalität gehortet hatten, kamen zu neuem Ansehen. Die bei ihnen liegenden Kopien verhalfen den Produzenten oft dazu, dass sich die abstrakten Rechte zu konkreten Auswertungsverträgen ummünzen liessen. Aus dem Abfall war auch eine erneut begehrte Ware geworden.

In neuerer Zeit gestaltet sich die Filmlancierung im Kino zunehmend hektischer: Vermeintlich erfolgversprechende Filme werden in immer grösserer Kopienzahl auf den Markt geworfen und verschwinden nach immer kürzerer Zeit in der Versenkung. Die Schweizer Verleihfirmen sind angesichts der aus solcher Kopienflut resultierenden hohen Lagerkosten dazu übergegangen, den grössten Teil der Kopien nach wenigen Monaten der Cinémathèque suisse zu übergeben.

Überquellende Archive
Das Schweizer Archiv, das noch vor wenigen Jahrzehnten fast um jede Filmkopie betteln musste, wird inzwischen damit überschwemmt. Das Filmlager in Penthaz, Ende der achtziger Jahre grosszügig gedacht, ist längst an die Grenzen seines Fassungsvermögens gelangt. Vergangenen Dezember hat nun der Nationalrat im Rahmen des zivilen Bauprogramms den Kredit für den Bau eines zweiten Filmarchivgebäudes in Penthaz bewilligt. Bis zu dessen Erstellung wird das kostbare Gut notdürftig zwischengelagert.

Die erfreuliche Tatsache, dass immer grössere Teile der Produktion in die Archive gelangen, stellt diese vor neue Probleme. Haben sie bisher nach Möglichkeit jeden Filmmeter, den sie bekommen konnten, gesammelt, werden sie künftig nicht mehr um eine Auswahl herumkommen. Die rasch voranschreitende Digitalisierung von Produktion und Vertrieb wird die Archivierungsprobleme nicht lösen, sondern lediglich verlagern.

Was also soll weiterhin als zu erhaltendes Sammelgut angesehen und was als Abfall weggeworfen werden? Soll man das künstlerisch Wertvolle privilegieren gegenüber reiner Kommerzware? Die Filmgeschichte kennt - wie die Kunstgeschichte - berühmte Fälle, in denen ein anfänglich negatives Urteil durch die Nachgeborenen korrigiert wurde. Das heutige Qualitätsurteil zum Erhaltungskriterium zu machen, erscheint daher problematisch. Und das Triviale von gestern, selbst wenn es später keine Erhebung zum Kultobjekt erlebt, ist zumindest von kulturgeschichtlichem Zeugniswert.

Ohne dass diese für die Archive in Zukunft entscheidenden Fragen schon schlüssig beantwortet wären, ist die Cinémathèque suisse bereits davon abgekommen, in jeder Filmkopie wertvolles Kulturgut zu sehen: Welchen Sinn sollte etwa die Aufbewahrung von zehn Kopien der französischen Synchronfassung eines Dutzendfilms aus Hollywood haben? So tief es das Sammlerherz, das wohl in jedem Archivmenschen steckt, auch schmerzen mag - selbst die Cinémathèque wird davon höchstens die zwei besterhaltenen aufbewahren. Der Rest: Abfall.

Quelle: von Martin Girod in der Neuen Zürcher Zeitung, 11. April 2009, Nr. 84, S. 56.
Martin Girod ist Filmjournalist und hat in Basel und Zürich jahrelang Kinos programmiert.

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