Die Preisgabe persönlicher Daten bildet die Geschäftsgrundlage für Netzwerke wie Facebook. Nutzer suchen ihren Spass in freizügigem Austausch und reklamieren dennoch Privatsphäre. Eine Illusion.
Im Wunsch nach Austausch und Selbstdarstellung treffen sich beide Seiten: Der Betreiber des Netzwerks braucht die Daten des Nutzers, um individualisierte Werbung schalten und Geld verdienen zu können. Der Nutzer wiederum baut seine Online-Existenz in sein alltägliches Leben ein, betreibt Eigenwerbung und Selbststilisierung, neudeutsch «Identitäts-Management», pflegt Beziehungen, knüpft neue Kontakte, flirtet, bloggt, tauscht sich über Termine und Veranstaltungen aus oder organisiert Flashmobs, Feten am Strand oder politische Demonstrationen. Mit einem Wort: Er (oder sie) steht als Individuum im öffentlichen Austausch, und zwar in vielerlei Hinsicht genau so, wie es der Soziologe Erving Goffman 1971 in «Relations in Public», diesen empirisch wunderbar reichen «Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung», beschrieben hat.
Facebook, um bei dem mit 400 Millionen Mitgliedern populärsten Portal zu bleiben, ist nun einmal kein von der Realität abgesondertes, ins virtuelle Nirwana verschobenes «Second Life», und seine Nutzer sind keine Avatars. Seltsam mag das Streben wirken, den Bekanntenkreis eifrig zu erweitern, Freundschaftsanfragen an Fremde zu richten und die dabei gewonnenen Kontakte wie Statussymbole – je mehr, desto besser, das derzeitige Richtmass liegt bei 130 – in der eigenen persönlichen Rubrik aufzulisten. Aber dies machen doch die Menschen in der sozialen Welt jenseits des Netzes seit Ewigkeiten ebenso gern: sich damit zu brüsten, «Beziehungen zu haben». Und wird der Leser Goffmans nicht auch bei Facebook manches interpersonelle Ritual wiederfinden, das der Soziologe beschrieb, als er von der Knüpfung und Belebung sozialer Kontakte handelte? Das Ritual der Bestätigung etwa, mit dem wir eine Äusserung einer Person oder auch eine Änderung in ihrer Lebenssituation quittieren – Glückwünsche, Lob, Neckereien, Beileid, Herstellung von Eintracht im Gespräch über Nichtigkeiten. Im Netz kann die Zustimmung wortreich auftreten, aber sie kann auch durch Symbole signalisiert und damit konventionalisiert sein, in Analogie zu den Höflichkeitsfloskeln des Real Life. Das Individuum im öffentlichen Austausch bedarf dringend all jener «Barmherzigkeiten», wie Goffman sie nennt, ohne die «überall unzufriedene Personen zurückbleiben würden, die an den ihnen zugefügten Konversationsgrausamkeiten verbluteten».
Gravierende Unterschiede zwischen reell und virtuell
Ein gravierender Unterschied zwischen den Sphären allerdings bleibt, und damit kommen wir zu den Gründen, die Kritiker einen Verfall der Privatsphäre beklagen lassen. Der Kommunikation im Online-Netzwerk fehlt der Blickkontakt. Manche Dinge sagen sich leichter, wenn man sie jemandem nicht direkt ins Gesicht sagen muss. Wie Sabine Trepte und Leonard Reinecke, ein Forschergespann zur Medien- und Sozialpsychologie an der Universität Hamburg, berichten, liefert eine Reihe von Studien Hinweise darauf, «dass computervermittelte Kommunikation im Vergleich zu direkter Face-to-face-Kommunikation in der Regel zu gesteigerter Selbstoffenbarung führt», eben weil die Kommunizierenden ein gewisses Gefühl von Anonymität besitzen und überdies meinen, sie beherrschten die Situation. Den Schluss jedoch, dass Nutzer des Web 2.0 keinen Sinn mehr für Privatsphäre hätten, wollen Trepte und Reinecke nicht ziehen. In einer eigenen Analyse weisen sie die Rede von «unreflektierten Exhibitionisten» zurück und legen eine Lesart nahe, wonach es die ohnehin Extrovertierten sind, die sich im Netz entblössen.
Holländische Wohnzimmer
Was ihr Selbstbild angeht, so tuten Blogger und andere Netzaktivisten ins gleiche Horn und wähnen sich von der Schuld frei, den Wert der Privatheit zu ruinieren. Sie können darauf verweisen, dass der Kampf gegen Datenmissbrauch ja im Internet selber geführt werde. Ihr zentrales Argument indes heisst «Kontext». Demnach muss für jede Information, die ein Nutzer im Social Web von sich preisgibt, der Bezug auf den Adressatenkreis gewahrt bleiben. Es gehe nicht an, mittels Suchmaschinen die über das Netz verstreuten Informationen aufzulisten und zu einem Porträt zu verdichten – und diese entblössende Kompilation dann mit den Worten zu rechtfertigen, es sei doch sowieso schon alles irgendwo bekannt gewesen.
Um mit einem Vergleich des Medienforschers und Bloggers Jan Schmidt zu reden: Facebook und Co. böten zwar «einsehbare Informationen», seien aber ihrem Wesen nach wie «holländische Wohnzimmer», deren Fenstern die Gardinen fehlten, ohne damit aber eine Einladung an jedermann zu verbinden, sich an den Scheiben die Nasen platt zu drücken. Der Vergleich ist ebenso hübsch wie schief. Er stösst sich am Wirken automatisierter Suchmaschinen (Webcrawler), die keine Grenzen achten, und ebenso daran, dass das Internet erlaubt, überall vor Fenstern herumzulungern, ohne fürchten zu müssen, ertappt zu werden. Privatheit ist, wer wollte es bestreiten, ein gefährdetes Gut.
Quelle: Joachim Güntner in: NZZ
Wir berichteten bereits früher zum Thema: Teil 1 des Artikels von Güntner, Rettet die Privatsphäre, Vom echten Wert von Freunden, La vie privée à 100% au résautage. Zudem gibt es unser Buch Identitäten im Internet – das Ende der Anonymität? zu kaufen.
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