Donnerstag, 6. Dezember 2012

Die Bibliothek als Garten für den Geist

Bibliothek Sainte-Geneviève, Paris.

Henri Labrouste, dem Architekten der französischen Nationalbibliothek wurde 1976 das letzte Mal eine Ausstellung gewidmet. Eine Werkschau entwirft nun ein differenziertes Portrait dieses Giganten des 19. Jahrhunderts.

Labroustes Werk ist gezeichnet durch die künstlerische Prägung durch einen fünfjährigen Studienaufenthalt in der Villa Medicis als Träger des Prix de Rome, die schöpferische Tätigkeit fast ausschliesslich im Staatsdienst (er entwarf Gefängnisse und Irrenhäuser) oder die seinerzeit neuartige Verwendung von freiliegenden Metallstrukturen. Letztere charakterisieren auch Labroustes zwei Hauptwerke.

Die 1850 eröffnete Bibliothèque Sainte-Geneviève, in Frankreich die erste spezifisch als solche entworfene Bücherei, ist ein Bau voll subtiler Überraschungen. Die Fassade zur Place du Panthéon hin bildet eine völlig regelmässige und mit ihren schmalen, fast schartenartigen Rundbogenfenstern auch leicht abweisende Fläche – eine Schreibfläche, deren Hauptzier die gravierten Namen von 810 Autoren bilden. Ein Türchen gibt den Weg frei auf das dunkle Vestibül: ein mysteriöser gemalter Garten, von dem aus eine von oben her erleuchtete Treppe zum Lesesaal im Obergeschoss führt. Dieser fasziniert mit der unerwarteten Deckenhöhe seiner beiden Tonnengewölbe und mit den schmiedeeisernen Kolonnen und Gewölbebögen, die aus dem Mauerwerk herauszuwachsen scheinen. Ihre Arabesken evozieren Sonne und Mond – das Spiel von Licht und Schatten ist denn auch eine der herausragenden Qualitäten des als erster Pariser Studienort mit Gasbeleuchtung ausgestatteten Ausnahmebaus.

Als solchen muss man auch die heutige Nationalbibliothek an der Rue de Richelieu bezeichnen, die derzeit aufwendigen Renovationsarbeiten unterzogen wird. Labrouste vereinheitlichte das disparate Gefüge aus klassischen Hôtels particuliers, prägte dem Komplex mit der Schaffung des 1868 eröffneten Lesesaals und des angrenzenden Büchermagazins aber auch seinen ureigenen Stempel auf. Der Lesesaal ist extraordinär: Neun mittig durch Oculi durchbrochene Kuppeln schweben wie weisse Krinolinen mit bunt bestickten Borten hoch über den Köpfen der Studierenden; die ornamentierten Eisenbögen, die sie tragen, ruhen auf sechzehn delikat dekorierten schmiedeeisernen Kolonnen. Der Eindruck von Luftigkeit und Lichtfülle dieses Gartens für den Geist ist atemraubend. Das fünfstöckige, dezidiert funktionale Magazin seinerseits leitet das von Sheddächern gespendete Oberlicht durch schmiedeeiserne Gitterböden hindurch bis zum untersten Geschoss hinab – mit seinen Laufstegen evoziert der Riesenraum den Maschinensaal eines Ozeandampfers.

Als Gesamterscheinung erscheint Labrouste als vielseitiger, komplexer, und bei allem Rationalismus auch poetischer Schöpfer – wovon nicht zuletzt seine von Sensibilität vibrierenden Zeichnungen zeugen. So empfiehlt sich die Schau in der Cité de l'architecture, die mit einer breiten Palette an Exponaten aufwartet, darunter superben, zum Teil über hundertjährigen Modellen. Auch beleuchtet sie vertieft Labroustes Nachleben: das Wirken seiner Schüler und seine Rezeption in Europa (wo Sigfried Giedion ihn polemisch instrumentalisierte) und in den USA. Im Schlusskapitel spannen die Kuratoren, Corinne Bélier von der Cité de l'architecture, Barry Bergdoll vom Museum of Modern Art in New York (wohin die Schau 2013 weiterzieht) und Marc Le Cœur von der Bibliothèque nationale de France, den Bogen von Labrouste über Louis Sullivan bis hin zu den Brüdern Perret, Frank Lloyd Wright und Pier Luigi Nervi.

Die Ausstellung dauert bis am 7. Januar 2013.
Katalog: Labrouste, architecte. Hrsg. Corinne Bélier, Barry Bergdoll, Marc Le Cœur. Cité de l'architecture/Editions Nicolas Chaudun, Paris 2012. 272 S., € 42.–.

Quelle: Marc Zitzmann in: NZZ, 21. November 2012.

Keine Kommentare: